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Fragen belästigen die Vernunft, die sie nicht abweisen kann

Wie die Philosophie, wenn sie an ihre Grenzen stößt, sich dem Glauben nicht mehr verweigern kann. Von Alexander Riebel

Der Verlust von Transzendenz und Sinngebung in unserer Zeit stellt die Vernunft vor besondere Herausforderungen. Kann aber die Vernunft, wie die Neuzeit meint, das Problem lösen? Genau besehen gerät doch erst die Vernunft, die die christlich verstandene Transzendenz aufgegeben hat, in die Krise.

Helmuth Holzhey, Professor em. für Philosophie an der Universität Zürich und Kenner besonders von Kant und dem Neukantianismus sowie Sachproblemen der Gegenwartsphilosophie, hat sich den „Erfahrungen an den Grenzen philosophischen Denkens“ gestellt und dieses Denken dem Glauben geöffnet. Ist nun das Scheitern der Vernunft vor den Fragen des Glaubens als Schicksal der Vernunft hinzunehmen? Holzhey zitiert Kant, der es in der „Kritik der reinen Vernunft“ so formuliert hat: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst gegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ Für Kant ist das „metaphysische Bedürfnis“ als schicksalshaft naturgegeben. „Lässt sich dieses Bedürfnis einlösen?“, fragt Holzhey: „Für Kant ist das nur im Glauben möglich.“ In einem „praktischen Vernunftglauben“, wie es bei Kant heißt, einer moralischen Gewissheit, dass es Gott und das ewige Leben gibt. Wenn aber alles vom Bewusstsein abhängig ist, wie in der Neuzeit, wird es mit dem metaphysischen Transzendieren schwierig.

Bei den alten Griechen „gibt es für Sterbliche keine Befreiung“ – aus dem Schicksal könnte etwas Fürchterliches „her-einspringen“, heißt es in der Antigone von Sophokles und gegen diese Angst hat besonders die Philosophie der Stoa von der Ordnung eines umfassenden Gesetzes des Logos gesprochen. So wird der Mythos des Schicksals durch ein Weltgesetz tiefgreifend verändert. Seneca schrieb in seinem 107. Brief an Luculius: „Auf dieses Gesetz muss sich unsere Seele einstellen; ihm soll sie folgen, ihm gehorchen; und was immer geschieht – dass es geschehen musste, soll sie einsehen und nicht die Natur beschuldigen wollen. Am besten ist es hinzunehmen, was du nicht bessern kannst, und dem Gott, nach dessen Willen alles geschieht, ohne Murren sich anzuschließen.“

Doch kehrte das Schicksal nach Holzhey im Fatalismus der modernen Lebenseinstellung wieder, besonders in den „Erfahrungen der postchristlichen Welt“. Die Psychoanalyse habe das beschleunigt mit ihren vier Begriffen des Triebschicksals: „Die Verkehrung ins Gegenteil (Die Wendung von der Aktivität in die Passivität); Die Wendung gegen die eigene Person; Die Verdrängung; Die Sublimierung.“ Holzhey sieht Freud noch radikaler als Kant, denn bei Freud gilt entschieden der Satz: „Da ich kann nie Herr im eigenen Hause sein.“

Holzhey geht philosophische Grundfragen durch, um deren Grenzen zu zeigen und um zu adäquaten Antworten zu kommen. Zu diesen Grundfragen gehört die Metaphysik, die „Kritik der Vernunft und Zerstörung“, das Bedenken des Endes des Lebens, die Unerklärlichkeit des Bösen, Hoffnung und Wahrheit sowie das „Denken im Modus des Leidens“.

In diesen Stichworten kündigt sich schon an, dass die Welt des Machens keine letzte Lösung sein kann. Der Autor zitiert Odo Marquards Analyse der „Unverfügbarkeit der Folge“: „Je mehr die Menschen sich die Wirklichkeit selber machen, umso mehr erklären sie sie schließlich – enttäuscht – zu der, für die sie nichts können und die ihnen nur noch angetan wird.“ Die Negativität der Moderne wird von einer Gegenfatalität begleitet: „Man muss das glauben, sonst muss man dran glauben.“ Selbst im Hinblick auf die Diskussion um den Suizid trauen wir der metaphysischen Dimension der Vernunft nur noch wenig zu. Die Kritik der Vernunft werde zur Pseudokritik, wenn sie sich nur selbst beschränke. Paulus hat es angedeutet (1. Korinther 13,12), was sich auch im Buchtitel ausspricht: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ Die Vernunft allein vermag ihre Rätsel nicht zu lösen, alles ist Stückwerk. Bleibt als Hoffnung die metaphysische Erfahrung in Verbindung mit dem Glauben. Eine Hoffnung, die auch Adorno kannte. Und Holzhey spricht vom großen Sinn in unserem schwachen Denken. So leidet metaphysisches Denken an sich selber, ja es sollte im Modus des Leidens denken. Denn auch wenn die Vernunft von Gott Abschied zu nehmen meint, bleibt die große Sinnfrage erhalten. So sind die Fragen nach Unsterblichkeit, Freiheit und Gott, wie Kant sie stellte, nicht mehr wie bei ihm aus dem Vernunftgebrauch erwachsen, sondern „im Geist der Weisheit Gottes erfolgt“, wie Holzhey schreibt.

Holzhey versucht also in seinem sehr lesenswerten Buch die Philosophie bis an die Grenze zur Transzendenz zu treiben, um zu zeigen was ihr fehlt.

Helmut Holzhey: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel: Erfahrungen an den Grenzen philosophischen Denkens. Schwabe Verlag, Basel 2017, 157 Seiten, ISBN-13: 978-379653-650-2, EUR 17,50

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Christentum Glaube Immanuel Kant Krisen Odo Marquard Seneca Sophokles Theodor W. Adorno

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