Eine 180-Grad-Wende habe die ÖVP da hingelegt, wird der Staatsfunk ORF nicht müde, gebetsmühlenartig zu wiederholen. Und zitiert als Beleg den neuen, interimistischen ÖVP-Chef Christian Stocker, der noch vor wenigen Wochen über Kickl sagte: „Uns trennen programmatisch als auch weltanschaulich als auch persönlich Welten.“ Mehr noch: Kickl sei „ein Sicherheitsrisiko“, er habe schon als Innenminister bewiesen, „dass er es nicht kann“. Jetzt stehen Koalitionsverhandlungen zwischen der „Kickl-FPÖ“ und der ÖVP unter der Führung von Stocker bevor.
Klar und zeitgeschichtlich ausreichend belegt ist, dass die ÖVP diesen Weg nicht gehen wollte: Weder wollte sie in eine Regierung unter einem Bundeskanzler Herbert Kickl eintreten, noch wollte sie selbst auf das Kanzleramt verzichten. Umstritten wird jedoch bleiben, woran die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS final scheiterten. Die NEOS, die am Freitag aus diesen Gesprächen ausstiegen, und die ÖVP, die sie am Sonntag final beendeten, sind sich in einem aber einig: Nicht nur der cholerisch-sture Stil von SPÖ-Chef Andreas Babler, sondern auch dessen ins Dunkelrote schillernde Positionen machten aus ihrer Sicht eine Fortsetzung der Verhandlungen sinnlos.
Neuwahlen waren keine Option
Die ÖVP und Bundespräsident Alexander van der Bellen standen also vor der Entscheidung, die Republik Österreich entweder in rasche Neuwahlen zu steuern oder doch – widerwillig und voller Bedenken – eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ zu wagen. Angesichts der Umfragen, die die FPÖ bereits über 36 Prozent sehen, und angesichts der Tatsache, dass seit den Parlamentswahlen bereits mehr als drei Monate mit Gesprächen verplempert wurden, wagen beide nun das schwarz-blaue Experiment.
Es ist eine Zeitenwende für Österreich: Mit Herbert Kickl dürfte erstmals ein FPÖ-Chef zum Bundeskanzler aufsteigen. Bisher musste sich die FPÖ bei allen Regierungsbeteiligungen auf Bundesebene mit dem Vizekanzler begnügen. Auf Länderebene ist sie derzeit in fünf Landesregierungen der Juniorpartner; nur in der Steiermark stellt sie den Regierungschef.
Die ÖVP ist mehrfach geschwächt
Gewiss, Bundespräsident Van der Bellen, der als dezidierter FPÖ-Kritiker bekannt ist, wird die Regierungsbildung mit Mahnworten begleiten. Verhandeln jedoch muss eine multipel geschwächte ÖVP, die zuerst die Parlamentswahlen, dann die Koalitionsgespräche und nun auch noch ihren Kanzler verlor. Ihr steht ein macht- und selbstbewusster FPÖ-Chef gegenüber, der Österreich seinen Stempel aufdrücken will.
In der Wirtschafts-, Sozial- und Migrationspolitik gibt es zwischen FPÖ und ÖVP breite Überschneidungen, in der Europa- und Außenpolitik dagegen liegt man Lichtjahre auseinander. Und natürlich auch in Ton und Stil, denn die ÖVP ist eine genetisch staatstragende Kraft der Zweiten Republik, während die FPÖ alle ihre Erfolge stets einer kantigen Oppositionsarbeit verdankte. Ein konfliktfreier Weg ist diesem Paar zweifellos nicht verheißen.
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