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Verraten und verkauft

Russland lässt die christlichen Armenier fallen und gibt Aserbaidschan grünes Licht für die Eroberung von Berg-Karabach.
Krieg um Berg-Karabach
Foto: IMAGO/Aik Arutunyan (www.imago-images.de) | Ein zerstörtes Auto in der Stadt Stepanakert, Hauptstadt der "Republik Arzach".

Sieht die Welt einem neuerlichen armenischen Genozid – zwar nicht wortlos, aber tatenlos – zu? Der Westen protestiert verbal gegen die blutigen Attacken Aserbaidschans auf die armenisch besiedelte Region Berg-Karabach (Arzach), die Türkei dagegen rechtfertigt die Angriffe ihres „Brudervolkes“. Beides ist weniger überraschend als das neue Desinteresse Russlands an der Kaukasus-Region, die Moskau stets als seinen Hinterhof betrachtete.

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Rechtzeitig vor den aserbaidschanischen Angriffen auf das nahezu wehrlose Berg-Karabach zogen sich die russischen Friedenstruppen – offenbar früh informiert – von ihren Posten zurück. Das Außenministerium in Moskau erklärte in demonstrativer Äquidistanz, Armenien und Aserbaidschan sollten die Waffen niederlegen und nach einer diplomatischen Lösung suchen. Tatsächlich jedoch ist Armenien militärisch gar nicht involviert; vielmehr hat Aserbaidschan unter Bruch des von Moskau 2020 ausverhandelten Waffenstillstands einseitig die „Republik von Arzach“, also das armenisch besiedelte Berg-Karabach, überfallen.

Es droht ein neuerlicher Genozid

Nach einer neunmonatigen Hunger-Blockade, die die russischen Friedenstruppen auch nicht verhinderten, droht dort nun ein neuerlicher Genozid an den angestammten Armeniern. Doch Russlands „Friedenstruppen“ hätten kein Recht, Waffen einzusetzen, solange sie selbst nicht bedroht sind, versicherte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, Andrej Kartapolow, am Dienstag. Das darf Baku als grünes Licht interpretieren.

Obwohl es seit Jahrzehnten reichlich Waffen an beide Seiten verkaufte, spielte sich Russland stets als Schutzmacht der Armenier auf. Jetzt aber hat es sie verraten und verkauft. Die Erdöl-Geschäfte mit Aserbaidschan sind für Wladimir Putin offenbar wichtiger als die Solidarität mit den christlichen Armeniern. Doch wenn Russland seine Rolle als Garantiemacht des Waffenstillstands nicht wahrnimmt, sondern den drohenden ethnischen Säuberungen in Berg-Karabach tatenlos zusieht, wird der Diktator in Baku das als grünes Licht für einen Überfall auf das armenische Staatsgebiet interpretieren.

Aserbaidschan strebt seit langem nach einem „souveränen Korridor“ quer durch Armenien zu seiner Exklave Nachitschewan. Das jedoch würde das kleine Armenien in zwei Hälften zerschneiden, ja seiner staatlichen Lebensfähigkeit berauben. Angesichts dieser Überlebensfrage sollten die Armenier jetzt dringend nach einer neuen, einer anderen und ehrlicheren Schutzmacht suchen.

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Stephan Baier Wladimir Wladimirowitsch Putin

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