Die Europäische Union verstärkt ihr Friedensengagement im Kaukasus. Am Montag beschlossen die 27 Außenminister der EU-Mitgliedstaaten einstimmig eine neue EU-Mission in Armenien, die zur Stabilisierung der Grenzgebiete Armeniens und zur Normalisierung zwischen Armenien und Aserbaidschan beitragen soll. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell sagte, man wolle sich im Kaukasus um Deeskalation bemühen und „eng mit beiden Seiten zusammenarbeiten, um das endgültige Ziel eines dauerhaften Friedens in der Region zu erreichen“. Die auf zwei Jahre angelegte, etwa 100 Personen starke neue EU-Mission wird auf Ersuchen Armeniens Patrouillen durchführen und über die Lage berichten.
Es droht erneut ein Kriegsausbruch
Die österreichische Armenologin Jasmine Dum-Tragut begrüßt diesen Beschluss als „ein Zeichen, auf das die Armenier lange gewartet haben“. Im Gespräch mit dieser Zeitung sagt sie: „Seit dem Waffenstillstand von 2020 hat sich nicht viel getan, doch im Vorjahr wäre es durch die Aggression von Aserbaidschan gegen Armenien beinahe erneut zum Kriegsausbruch gekommen.“ Das Vorgehen Bakus, das nicht nur gegen Berg-Karabach (Arzach), sondern direkt gegen Armenien gerichtet war, veranlasste die EU damals zur Entsendung von Beobachtern.
Aserbaidschan verfolgt offenbar zwei Ziele: Einerseits einen Korridor durch Armenien in die Exklave Nachitschewan zu erzwingen, wodurch Armenien faktisch in zwei Teile zerschnitten würde; andererseits das armenisch besiedelte Arzach unter Druck zu bringen, damit die armenische Bevölkerung emigriert und Baku die Region überlässt. Dum-Tragut schildert gegenüber der „Tagespost“, dass die einzige Landverbindung zwischen Armenien und Arzach weiterhin blockiert ist, wodurch die Versorgung der Karabach-Armenier mit Medikamenten und Lebensmitteln immer dramatischer wird: „Es gibt nicht nur Versorgungsengpässe, sondern auch eine medizinische Krise. Das Leben ist stillgelegt. Die Menschen werden regelrecht ausgehungert“.
Russische Friedenstruppen nicht mehr verlässlich
Auf Russland und seine in der Region stationierten sogenannten Friedenstruppen könne man sich „überhaupt nicht mehr verlassen“. Die einzige Chance liege jetzt in der Stationierung internationaler Beobachter, die die Vorgänge an den Grenzen sowie den Personen- und Warenverkehr nach Arzach kontrollieren. „Es ist entscheidend, dass das eine von den Machthabern unabhängige Mission ist.“
Obgleich während des Krieges von 2020 gut drei Viertel der Karabach-Armenier geflohen seien, lebten nun erneut 120.000 Armenier in dieser Region. „Die Menschen halten zusammen und helfen sich gegenseitig, um trotz aller Unsicherheiten in ihrer Heimat bleiben zu können.“ Als „Horrorszenario“ bezeichnet Dum-Tragut die Möglichkeit, dass Aserbaidschan alle Armenier vollständig aus Karabach vertreibt. Dass sich Karabach direkt an Armenien anschließt, sei für Baku „ein völliges No-Go“.
Aus Sicht der landeskundigen Armenologin ist wichtig, dass die neue EU-Zivilmission ihren Sitz in Armenien haben wird. Deren erklärtes Ziel sei, die Grenzregionen zu stabilisieren und den Zugang nach Karabach zu sichern. „Das ist entscheidend, weil Aserbaidschan versucht, die Menschen abzuschneiden und auszuhungern.“ Die Armenier in Karabach wie in den Grenzregionen seien nicht gewillt, dem Druck nachzugeben und ihre Dörfer zu verlassen. Von der EU oder den Vereinten Nationen wünscht sich Dum-Tragut neben der zivilen eine militärische Mission. Die Verantwortlichen müssten sich die Gegebenheiten vor Ort ansehen, anstatt Ratschläge aus der Ferne zu geben. Ein Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan sei jedoch derzeit nicht in Sicht, weil der aserbaidschanische Diktator Ilham Alijew die Feindschaft gegen die Armenier regelrecht zelebriere und sich am längeren Hebel wähne.
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