Seit Beginn der russischen Invasion war Polen für Wolodymyr Selenskyj immer nur eine Durchgangsstation – diesmal beim angekündigten Besuch des ukrainischen Präsidenten in der polnischen Hauptstadt Warschau gab es keine Weiterreise gen Westen. Polen, das nach den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu den wichtigsten militärischen Unterstützern der Ukraine im Verteidigungskrieg gegen Russland agiert, war das alleinige Ziel seiner Reise.
Keine Lücke zwischen Worten und Taten
Ein starkes Symbol der Verbundenheit beider Länder, die im Zuge der russischen Aggression – für Geschichtskundige etwas überraschend – zu ziemlich besten Freunden mutiert sind. Was wohl nicht nur an den gemeinsamen verteidigungspolitischen Interessen liegt. Auch die Chemie zwischen Selenskyj und Polens Präsident Andrzej Duda sowie Ministerpräsident Mateusz Morawiecki scheint zu stimmen. Selenskyj schätzt an beiden, dass zwischen Worten und Taten keine Nachhaltigkeits-Lücke klafft. Keine Selbstverständlichkeit beim Kontakt mit EU-Mitgliedern.
Doch wie der Besuch, der in einer emotionalen Rede Selenskyjs im Hof des Warschauer Königsschlosses gipfelte, wo einige der insgesamt ungefähr 1,5 Million ukrainischen Flüchtlinge begeistert zuhörten, auch klar gemacht hat: es herrscht nicht nur Eitelsonnenschein zwischen Warschau und Kiew. Wegen der russischen Blockade des Schwarzen Meeres kann ukrainisches Getreide nur über Transitländer wie Polen auf den Weltmarkt, insbesondere Afrika, gelangen, doch bei der Verladung in den polnischen Hafenstädten stauen sich wegen mangelnder Kapazitäten Mais und Weizen. Negativer Effekt für die polnischen Bauern, die ausgerechnet am Besuchstag Selenskyjs demonstrierten: ukrainisches Getreide verdirbt die Preise der polnischen Erzeugnisse.
Mehrheit der Polen stützt Solidaritätskurs mit Selenskyj
Wie dieses Problem gelöst werden soll, ließen Selenskyj und Duda in Warschau offen, doch – so wurde verlautbart – man habe eine Lösung. Hoffentlich. Denn es wäre fatal, wenn sich auch in Polen eine Stimmung der feindlichen Distanz gegenüber dem tapferen Pufferland zwischen NATO und Russland ausbreiten würde. Erste Tendenzen dazu gibt es bereits an den nationalistischen Rändern Polens, wo man offenbar trotz Traditionsbewusstseins nichts aus der Geschichte und gescheiterter Appeasement-Strategien lernen möchte.
Doch die Mehrheit der polnischen Zivilgesellschaft, egal ob konservativ oder liberal, sieht das anders und unterstützt den offensiven Solidaritätskurs mit Selenskyj. Sicherlich auch deshalb, weil die Ukraine nach dem Krieg, wenn es um den Wiederaufbau geht, ein wirtschaftlich lukrativer Partner sein wird. Selenskyj weiß auch darum, weshalb er bei seiner Rede Polen für die Zukunft eine Art wirtschaftliche Pole-Position versprach. Ziemlich beste Freundschaften – gerade zwischen Staaten – basieren immer auch auf einer Win-win-Situation.
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