Der Nahost-Experte Simon Jacob warnt vor den Auswirkungen eines türkischen Einmarschs im kurdisch besetzten Teil Syriens. Das betreffe nicht nur die Situation der Christen vor Ort selbst, sondern auch die Zukunft der Region als Spielball zwischen den Großmächten, meint der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats orientalischer Christen in Deutschland (ZOCD) im Gespräch mit der „Tagespost“. Die Türkei, so der 1978 geborene Jacob, drohe aufgrund ihres kostenintensiven Einsatzes im Nahen Osten selbst in die Instabilität abzugleiten.
"Sollte die Türkei [...] die Kontrolle über
dschihadistische Milizen verlieren, [...] hätte
der Iran die perfekte Begründung, um weitere
schiitische Milizen in die Region zu schicken"
Simon Jacob, ehemaliger Vorsitzender des Zentralrats orientalischer Christen in Deutschland
Es müsse im Interesse der Europäer liegen, „dass dieser letzte Anker nicht in noch mehr Konflikte gezogen wird, die auch innenpolitisch zu einer Wirtschaftskrise führen könnte.“ Und weiter: „Sollte die Türkei zum Beispiel die Kontrolle über dschihadistische Milizen verlieren, der IS wiedererstarken oder der Einfluss sunnitisch-arabischer Prägung, gesteuert aus Saudi-Arabien, wieder zunehmen, hätte der Iran die perfekte Begründung, um weitere schiitische Milizen in die Region zu schicken.“
Jacob warnt vor den schiitischen Kampfverbänden, die von einer euphorischen Endzeitstimmung besessen seien. „Viele dieser schiitischen Milizen, die bereits Kampferfahrung gegen den IS und im Ersten Golfkrieg gesammelt haben, sind vom Gedanken beseelt den apokalyptischen Boden für den entschlafenen Mahdi vorzubereiten, der dann, gemäß der messianischen Lehre, als Lichtgestalt irdischen Boden betreten wird und der Welt Frieden bringt.“ Die Gefahr, die vom Iran ausgehe, werde von Deutschland – wohl auch aus wirtschaftlichen Interessen – unterschätzt. Teheran agiere nicht nach rationalen Spielregeln.
Christen passen sich ihren Machthabern an
Die Zukunft des orientalischen Christentums sieht er massiv bedroht: „Es sind die letzten Atemzüge der alteingesessenen Christen.“ Wie auch in der Vergangenheit würden sich die Christen ihren jeweilen Machthabern anpassen. Aber die radikal-islamische, wahhabitische Lehre habe die ganze Region erfasst, die Scharia den Rechtsstaat ausgehöhlt. Christen und Andersgläubige seien Bürger zweiter Klasse. Bildungsarmut, Arbeitslosigkeit, mangelnde Infrastruktur und massive Korruption täten ihr Übriges.
Auf die Frage, welche Rolle Deutschland in dem geopolitischen Spiel spiele, meint Jacob: „Deutschland allein kann nicht viel tun. Es müsste ein europäischer Kraftakt sein.“ Wirtschaftlichen und soziale Reformprogramme reichten jedoch nicht aus. Zukunft hätte nur eine föderale, regionale Administration. Und: „In diesem Zusammenhang könnten, jedenfalls für einen begrenzten Zeitraum, europäische Blauhelme für die nötige und neutrale Balance sorgen.“
Christen bezüglich Neuordnung Nordsyriens gespalten
Die Christen vor Ort seien gespalten, wie die Neuordnung in Nordsyrien aussehen soll. Die Mehrzahl unterstützte den syrischen Präsidenten Assad. Es gebe aber auch unter den Suryoye – Assyrer, Aramäer und Chaldäer – Stimmen, die sich eine föderale Zukunft unter den Kurden vorstellen könnten. Wegen verwandtschaftlicher Beziehungen in die Südosttürkei gebe es besonders unter den Aramäern Befürworter eines türkischen Einsatzes.
Der Sohn syrisch-orthodoxer Eltern aus der Türkei, der mit zwei Jahren nach Deutschland kam, beobachtet eine ähnliche Spaltung der orientalischen Christen hierzulande. „Es gibt inzwischen das Assad-, das Kurden- und das Erdogan-Lager. „Wer ist die Schutzmacht der Christen?“ ist das Credo, welches im politischen Spiel, auch gegenüber dem Westen, zum Einsatz kommt. Ähnlich verhält es sich mit deutsch-türkischen, deutsch-kurdischen, deutsch-alawitischen oder deutsch-jesidischen Gemeinschaften.“ Jacob warnt davor, dass die angeheizte Stimmung Konfliktpotential berge, das politisch instrumentalisiert werden könnte.
DT/mga
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