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Die nächste armenische Tragödie

Die „ethnische Säuberung“ von Berg-Karabach ist nahezu abgeschlossen. Doch der mehr als hundertjährige Leidensweg des armenischen Volkes geht weiter.
Armenier verlassen Berg-Karabach
Foto: IMAGO/Grigoriy Pechorin (www.imago-images.de) | Mehr als 100.000 Armenier haben Berg-Karabach bereits verlassen. Die Menschen haben eine humanitäre Tragödie hinter sich – und auch vor sich.

Mehr als 100.000 Armenier haben ihre angestammte Heimat Berg-Karabach (Arzach) bereits fluchtartig verlassen. Bleiben wird wohl nur, wer keine Möglichkeit zur Flucht hat oder bereits verhaftet wurde. Die Menschen haben eine humanitäre Tragödie hinter sich – und auch vor sich: Eine neunmonatige Hunger-Blockade mussten die Karabach-Armenier durchstehen, neun Monate, in denen es an Medikamenten und Grundnahrungsmitteln mangelte, ja Menschen schlicht verhungert sind. Und nun kommen sie, die Haus und Heimat verloren haben, mit wenigen Habseligkeiten nach tagelanger, anstrengender Flucht in einem Land an, das ihnen weder ein Dach über dem Kopf noch eine medizinische Versorgung garantieren kann.

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Wenigstens hier muss die internationale Staatengemeinschaft – die seit Februar 2022 demolierten Vereinten Nationen und der überschätzte „kollektive Westen“ – endlich helfen: Zumindest die nächste humanitäre Krise muss jetzt verhindert werden, indem die geflohenen und ihrer Heimat beraubten Karabach-Armenier in Armenien mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden. Denn Armenien selbst ist damit heillos überfordert, und die bisherige „Schutzmacht“ Russland ist dazu nicht bereit.

Eine humanitäre, kulturelle und historische Katastrophe

Die fast vollständige „ethnische Säuberung“ von Berg-Karabach ist eine humanitäre, eine kulturelle und eine historische Katastrophe: Kirchen und Klöstern aus dem 4. bis 6. Jahrhundert droht die Zerstörung, altes armenisches Kulturgut wird – wie in Aserbaidschan und Nachitschewan geschehen – vernichtet. Auch 108 Jahre nach dem großen armenischen Genozid, bei dem 1,5 Millionen Armenier ums Leben kamen, gibt es keinen Schutz und keine Sicherheit für dieses traditionsreiche, kleine, christliche Volk. Wie vor mehr als einem Jahrhundert, sind diese Menschen der Willkür ihrer Nachbarn schutzlos ausgeliefert.

Darum droht schon bald die nächste Katastrophe: Ermutigt durch die Erfahrung, dass niemand ihm bei der Eroberung von Berg-Karabach in den Arm fiel, könnte der Präsident Aserbaidschans, Ilham Aliyev, jetzt versuchen, seinen Traum vom „souveränen Korridor“ quer durch Armenien nach Nachitschewan zu realisieren. Will die „internationale Staatengemeinschaft“ – oder was von ihr nach 2022 noch übrig ist – auch der Zerstörung Armeniens tatenlos zusehen? Es wäre eine moralische Bankrotterklärung der Vereinten Nationen, insbesondere des Westens.

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Stephan Baier UNO

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