Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Kommentar um "5 vor 12"

Brennende Banlieues einer vaterlosen Gesellschaft

Der Angriff der jugendlichen Randalierer auf die Einrichtungen der französischen Republik kommt einem kollektiven Selbstmord gleich.
Ausschreitungen im französischen Nanterre
Foto: IMAGO/L.Urman / Starface (www.imago-images.de) | Brennende Schulen, Rathäuser, Polizeistationen, Busse und Straßenbahnen, geplünderte Supermärkte und Luxusboutiquen haben nicht mehr viel mit dem eigentlichen Anlass der Ausschreitungen zu tun, dem Tod des jungen ...

Wer nachts von Schüssen geweckt wird, der wünscht sich die Zeiten der Rentenstreiks zurück, in denen lediglich die Müllberge in den Pariser Straßen tagelang zum Himmel stanken. Während brennende Autos und Mülltonnen in den letzten Monaten beinahe zum Straßenbild von Pariser Vorstädten zu gehören schienen, übersteigt die Zerstörungswut, die sich aktuell in den Pariser Vorstädten und an anderen Orten Bahn bricht, alles bisher Gesehene. Selbst die wochenlangen Krawalle 2005 sind von den Szenen entfernt, die die jungen Randalierer in den letzten Nächten produzierten.

Brennende Schulen, Rathäuser, Polizeistationen, Busse und Straßenbahnen, geplünderte Supermärkte und Luxusboutiquen – und ja, darunter auch Waffenläden – haben nicht mehr viel mit dem eigentlichen Anlass der Ausschreitungen zu tun, dem Tod des jungen Naël während seiner Flucht vor einer Polizeikontrolle. Das ist kein Protest gegen die angeblich rassistische Polizei mehr, es ist ein Aufstand gegen die Republik, ihre Einrichtungen und ihre Vertreter. Die sozialen Medien geben dabei nicht nur Unbeteiligten die Möglichkeit, die Geschehnisse in Echtzeit mitzuverfolgen, die jugendlichen Brandstifter und Plünderer können hier auch mit ihren Taten prahlen, sich gegenseitig anstacheln und nicht zuletzt: ihre Aktionen koordinieren. 

Die Entfremdung schreitet fort

Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, der letztes Jahr immerhin über 20 Prozent der Stimmen im Präsidentschaftswahlkampf erreichte, weigert sich, zur Mäßigung aufzurufen. Er und seine Parteigenossen suchen die Verantwortung bei einer Gesellschaft, die die Bevölkerung der Vorstädte ver- und missachte und ihnen jeglichen Weg zum gesellschaftlichen Aufstieg verbaue. Dabei folgt seit Jahrzehnten ein „Plan Banlieue“ auf den anderen. Zuletzt sind nach den Ausschreitungen 2005 erneut Millionen und Abermillionen in die Vororte geflossen, in die Renovierung von Schulen, den Ausbau von öffentlichen Diensten und kulturellen Angeboten, in die Anstellung von Sozialarbeitern. 

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Gleichzeitig ist die Entfremdung zwischen öffentlichen Diensten und Vorstädten weiter fortgeschritten. In bestimmte Viertel wagen sich Polizei und Einsatzkräfte bereits seit Jahren nicht mehr. „Wenn du sie respektierst, respektieren sie dich auch“, lautet ein Mantra Mélenchons und seiner Kollegen. Offensichtlich ist das Gegenteil der Fall. Seine Wählerschaft wird Mélenchon mit seiner Linie wohl nicht vergrößern – laut einer Umfrage sind 70 Prozent der Franzosen dafür, dass die Armee eingreift, um die Krawalle zu beenden. 

Präsident Emmanuel Macron wirkte etwas hilflos, als er die Eltern der jugendlichen Krawallbrüder dazu aufrief, ihre Kinder unter Kontrolle zu bekommen. Knapp 1.000 Festnahmen verzeichnete das Innenministerium in der Nacht von Freitag auf Samstag – ein Drittel der Straftäter ist minderjährig. Man könnte ihren Aufstand als Ausdruck der Perspektivlosigkeit verstehen, als Hilfeschrei einer verlorenen Generation, ein Ruf der Vergessenen nach Aufmerksamkeit.

Die Armut ist in den Banlieues eher gewachsen

Tatsächlich ist die Armut in den Banlieues ist seit 2005 eher gewachsen als gesunken. Warum aber die Hand beißen, die einen füttert? Es kommt einem kollektiven Selbstmord der jungen Menschen gleich, wenn sie all das zerstören, was ihnen gesellschaftlichen Aufstieg und Anbindung an das gesellschaftliche und kulturelle Leben ermöglichen würde. Das ist nicht nur Ausdruck von Perspektivlosigkeit, sondern deren Herbeiführung, im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Und nicht zuletzt ein gravierender Mangel jeglicher Werte, auf denen in Europa gesellschaftliches Zusammenleben beruht, allen voran der Respekt vor menschlichem Leben und dem Eigentum anderer. 

Ja, die Integration ist bisher in weiten Teilen gescheitert. Und ja, auch aufgrund staatlichen Versagens. Denn neben den bitter notwendigen Investitionen in Bildung, Kultur und Erhöhung des Lebensstandards braucht es dringend eine Reinvestition in den Rechtsstaat. Dazu gehört auch, Straftäter angemessen zur Rechenschaft zu ziehen und der Bandenkriminalität den Kampf anzusagen. Die Werte der Republik dürfen nicht nur Rhetorik sein, sondern müssen auch durchgesetzt werden, um ernst genommen zu werden. Und so sind die Ausschreitungen vielleicht doch ein Hilfeschrei, ein Schrei nach der abwesenden väterlichen Autorität. Im „Pablo Picasso“, dem Wohnviertel in Nanterre, aus dem auch Naël stammte, besitzen 30 Prozent der Familien nur einen Elternteil – meistens die Mutter. Es sind auch die hilflosen Eltern der jugendlichen Randalierer selbst, die in den letzten Nächten vor den Schulgebäuden Wache geschoben haben, um sie zu beschützen.

Glücklicherweise gibt es sie auch, kleine Szenen, die Hoffnung machen: Ein Video macht die Runde, in dem ein Vater zu sehen, ist, der seinen Sohn aus der Mitte der Randalierer herausgreift, ihn in sein Auto zerrt und ihn abtransportiert. Und dann ist da der arabische Taxifahrer, der davon erzählt, wie er vor Jahren seinem Sohn gesagt habe, er werde ihm den Kopf abreißen, wenn er bei solchem Unsinn mitmache. Heute steht der Sohn kurz vor Abschluss seines Medizinstudiums. 

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