Seit vergangenem Freitag ist das umstrittene Dokument online: Die Endfassung der S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ kann nun auf dem Portal der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e. V. abgerufen werden. Seit vor einem Jahr die Vorlage veröffentlicht wurde, reißt die Kritik nicht ab.
So hatte sich der deutsche Ärztetag im Mai letzten Jahres gegen eine Behandlung von Jugendlichen mit Pubertätsblockern oder geschlechtsumwandelnden Hormonen außerhalb wissenschaftlicher Studien ausgesprochen und sich damit indirekt gegen die kurz zuvor veröffentlichte Vorlage gewandt.
Der Münchner Kinderpsychiater Alexander Korte, der ursprünglich an der Erstellung der Leitlinie beteiligt war, schied im Laufe des Prozesses aus. Gegen über der „Neuen Zürcher Zeitung“ kritisierte er im Oktober, dass die Leitlinie „einen ausschließlich transaffirmativen Behandlungsansatz festschreibt, bei dem die Identifizierung des Kindes mit dem anderen Geschlecht nicht mehr kritisch hinterfragt werden darf. Stattdessen soll der Wunsch Minderjähriger als alleinige Wahrheit hingenommen und medizinisch erfüllt werden. Das halte ich für einen fatalen Fehler. Kinder und Jugendliche werden per Pubertätsblockade auf ein Gleis gesetzt, das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nur in eine einzige Richtung führt.“ Auch gebe es keinerlei Belege dafür, dass eine frühzeitige Weichenstellung mit Pubertätsblockade und Hormonbehandlung das Suizidrisiko von Betroffenen senke.
Nicht evidenzbasiert
Dass es wenig medizinische Evidenz für die zentralen Aussagen der Leitlinie gibt, wissen auch deren Ersteller, die sie „aufgrund fehlender kontrollierter Wirksamkeitsnachweise und einer insgesamt unsicheren Evidenzlage“ von einer evidenzbasierten zu einer auf dem „Expertenkonsens“ beruhenden Leitlinie herabgestuft haben.
Doch dieser Konsens ist offenbar relativ: Denn erstaunlicherweise äußert auch eine der größeren Fachgesellschaften umfangreiche Kritik, die an der Erstellung der Leitlinie beteiligt waren. So findet sich im Anhang der Leitlinie ein umfangreiches Sondervotum der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), welches die Präambel der Leitlinie „in der Summe der Feststellungen“ ablehnt. Die genannten Gründe sind vielfältig: So kritisiert die DGPPN, dass schon die Präambel der Leitlinie einen primär affirmativen Ansatz gewählt habe, „der Wunsch und Wille der Beratung bzw. Behandlung suchenden Person zum einzigen relevanten Maß macht“, bevor sie nach der wissenschaftlichen Evidenz frage.
Medizinethische Fragen nicht abwägend diskutiert
Auch wendet sich die DGPPN gegen die von der Leitlinie vertretene Auffassung, eine Verpflichtung zu Psychotherapie als Bedingung für den Zugang zu medizinischer Behandlung sei „aus Gründen des Respekts vor der Würde und Selbstbestimmung der Person ethisch nicht gerechtfertigt“. Dem hält die DGPPN entgegen, dass es in der Medizin durchaus ein Standardverfahren sei, dass vor Durchführung bestimmter Maßnahmen andere diagnostische oder therapeutische Maßnahmen vorausgesetzt werden. Dies sei auch für Hormonbehandlungen oder körpermodifizierende Behandlungen nicht von vorneherein als moralisch unzulässig abzulehnen.
Medizinethische Fragen würden zwar aufgeworfen, aber nicht abwägend diskutiert. Insbesondere das Kapitel über die Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger zu geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen behandle vorwiegend juristische Aspekte und beziehe sich fast ausschließlich auf ein der DGPPN „unzugängliches Rechtsgutachten, welches im Auftrag des Leitlinienkoordinators Prof. Romer angefertigt wurde“ – und offensichtlich den an der Erstellung der Leitlinie beteiligten Fachgesellschaften nicht zur Verfügung gestellt wurde.
Eltern in Angst
In einer Stellungnahme des Kollektivs „TransTeens Sorge Berechtigt“ (TTSB) äußern betroffene Eltern die Sorge, dass „ihre Kinder zu früh und zu schnell in ihrer Selbst-Diagnose Trans bestätigt werden, dass sie unnötig medikalisiert werden, weil sie ganz andere Probleme haben oder beispielsweise mit ihrer Sexualität oder sexuellen Orientierung hadern.“ Genderdysphorie könne jedoch ein Symptom, eine Identifikations-Schablone und/oder Bewältigungsmechanismus sein. Eltern hätte große Angst, dass ihre Kinder den falschen Weg einschlagen, weil affirmativ behandelndes Personal gar nicht wissen wolle, was hinter dem Symptom steckt. „Stattdessen bestätigen die ExpertInnen unseren Teenagern ‚im falschen Körper zu sein‘ solidarisieren sich mit ihrer Selbst-Diagnose und sie suggerieren ihnen, dass ihre psychischen Probleme durch die Medikalisierung und Modifizierung des Körpers verschwinden“, so heißt es auf der Website des Kollektivs.
Tatsächlich orientieren sich die neuen Leitlinien an den Empfehlungen der Weltorganisation für Transgender-Behandlungen WPATH, obwohl geleakte Dokumente im letzten Jahr gezeigt haben, mit welch zweifelhaften Methoden WPATH vorgeht. Die durchgestochenen Dokumente geben eindeutige Hinweise darauf, dass WPATH-Mitglieder keine Rücksicht auf die langfristigen Folgen der sogenannten „affirmativen Behandlung“ für die Patienten nehmen, obwohl sie sich der gravierenden Nebenwirkungen von geschlechtsübergreifenden Hormonen und anderen Behandlungen bewusst sind.
Länder wie Schweden, Großbritannien und die USA, die lange Zeit Vorreiter in Sachen affirmativer Behandlung waren, haben mittlerweile die Behandlung Minderjähriger mit Hormonen und Geschlechtsoperationen stark eingeschränkt. (DT/fha)
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