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„Inventing Anna“: Ist Anna Hochstaplerin oder Opfer?

Die Netflix-Serie „Inventing Anna“ erzählt eine im Kern wahre Geschichte. Die Serie handelt aber auch von der Verzerrung der Realität durch die Sozialen Medien .
Fimlszene aus "Invention Anna"
Foto: Netflix /Nicole Rivelli | Mit selbstbewusstem Auftreten und einer erfundenen Geschichte als reiche deutsche Erbin schafft es Anna (Julia Garner), unter der High Society New Yorks Investoren für ihre „Anna Delvey Stiftung“ zu ...

Es begann mit Geld, wie so oft in New York.“ So setzt die Reportage ein, die nach langer Recherche Journalistin Vivian Kent (Anna Chlumsky) über Anna Delvey (Julia Garner) für ein New Yorker Magazin schreibt. Die Figur Vivian Kent in der Netflix-Serie „Inventing Anna“ lehnt sich an Jessica Pressler an, die den Artikel „How Anna Delvey Tricked New York's Party People” im „New York Magazine“ veröffentlichte. Insofern heißt es, dass sich „Inventing Anna“ von wahren Tatsachen inspirieren ließ.

Allerdings erscheint in jeder Folge – meistens auf sehr kreative Weise umgesetzt – die Aufschrift: „Diese Geschichte ist vollkommen wahr. Außer die Teile, die erfunden sind“. Das spielt darauf an, dass die „echte“ Anna Delvey Netflix teilweise die Rechte – dem Vernehmen nach gegen 300.000 Dollar – überließ. Aber eben nur zum Teil, denn sie soll zurzeit an einer Dokumentation und an einem Podcast arbeiten.

„Mit einem beinah unbegrenzten Selbstbewusstsein
überlistet die junge Frau erfahrene Anwälte und Banker,
um sie zur Mitarbeit bei der Gründung einer ‚Anna Delvey Foundation‘ zu bewegen“

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Der Serientitel „Inventing Anna“ ist bewusst zweideutig: Wer „erfindet“ Anna Delvey? Sich selbst oder aber die Journalistin? Damit sich Anna für ihren Artikel interviewen ließ, hatte Vivian doch zu ihr gesagt: „Du wirst berühmt werden. Jeder wird den Namen Anna Delvey kennen“. Demnach geht es Anna, die eigentlich mit Familiennamen Sorokin heißt, nicht nur oder vielleicht nicht einmal in erster Linie ums Geld, sondern eher um Ruhm und Status. Denn ebenso wichtig ist ihr der Glamour, in der High Society zu verkehren und die sozialen Medien im Sturm zu erobern, um berühmt zu werden.

Das erkennt Vivian sofort, als sie erfährt, dass die in den Sozialen Medien gefeierte und reiche deutsche Erbin Anna Delvey wegen Betrugs festgenommen und angeklagt wurde. Die Serie beginnt ja gerade mit der Festnahme und mit dem Auftritt der Staatsanwältin Catherine McCaw (Rebecca Henderson) vor der Presse, bei dem sie die Anklagepunkte vorliest. Deshalb erzählt „Inventing Anna“ in Rückblenden. Darüber hinaus setzen die Filmemacher einen bekannten Kunstgriff ein: Die Serie übernimmt verschiedene Standpunkte – in jeder Folge steht eine andere Figur im Mittelpunkt, aus deren Perspektive erzählt wird. Die teilweise sehr unterschiedlichen Sichtweisen tragen zur Antwort auf die Frage „Wer ist eigentlich Anna“ bei.

Wichtig: Als Freundin wichtiger Menschen gelten

 

 

Anna taucht in New York aus dem Nichts auf. Sie gibt sich als reiche deutsche Erbin aus, die über Treuhandfonds in unermesslicher Höhe verfügt. Mit einem besonderen Gespür für Mode und andere Äußerlichkeiten arbeitet die 25-Jährige an ihrem Auftreten in den Sozialen Medien, insbesondere auf Instagram. Dadurch erschleicht sich Anna den Zugang zur New Yorker High Society. Die Frage, inwieweit die Sozialen Netzwerke die Realität verzerren, zieht sich deshalb wie ein roter Faden durch die Serie.

Mit einem beinah unbegrenzten Selbstbewusstsein überlistet die junge Frau erfahrene Anwälte und Banker, um sie zur Mitarbeit bei der Gründung einer „Anna Delvey Foundation“ zu bewegen. Sie schafft es, als Freundin wichtiger Leute zu gelten, deren Geschäftsfreundschaft einiges verspricht. „Inventing Anna“ konzentriert sich aber insbesondere auf das schwierige Verhältnis zwischen Anna und der Journalistin Vivian, die ja herauszufinden versucht, wer die echte Anna hinter der Fassade ist: Ist sie eine Hochstaplerin und Betrügerin oder eher jemand, der das System ausreizte, bis sie dessen Opfer wurde?

Zehn Stunden, neun Folgen - dennoch genug Kurzweil

Dass Vivian etwas wiedergutzumachen hat, ist ein zusätzlicher dramaturgischer Antrieb, der auch erklärt, warum sie sich trotz fortgeschrittener Schwangerschaft auf den Fall stürzt. Damit wird auch die Frage der Vereinbarkeit zwischen Arbeit und Beruf gestellt. Sie findet ebenso eine Spiegelung bei Annas Verteidiger Todd (Arian Moayed), dessen Ehe in Gefahr gerät, als er sich nur noch für den Fall zu interessieren scheint. Trotz der überlangen Laufzeit – zehn Stunden in neun Folgen – gelingt es den Filmemachern, durch den ständigen Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart, durch den Perspektivwechsel und die Einbeziehung von Instagram-Bildern das Tempo hoch zu halten. Dazu trägt ebenfalls der Kontrast zwischen den beiden Protagonistinnen bei: Die luxuriösen Locations und die Garderobe aus den absoluten Top-Modemarken bei Anna stehen im Gegensatz zur einfache Wohnung und zur nüchternen Garderobe Vivians.

Julia Garner stellt Annas Widersprüche mit einer außergewöhnlichen Bandbreite dar, die von Naivität bis zu manipulativer Kälte reicht; Anna Chlumsky als Vivian steht ihr in nichts nach. Sie bringt Menschlichkeit und Nähe in eine Geschichte, die von Betrug und Oberflächlichkeit geprägt ist. Sorgfältig besetzt sind ebenso die Nebenrollen – dies gilt sowohl für das Freundinnen-Trio um Anna als auch für Vivians drei altgediente Kollegen, die ihr stets zur Seite stehen. Selbst Annas Vater, der nur in einer Folge auftritt, wird von einem der besten deutschen Charakterdarsteller der Gegenwart, Peter Kurth, gespielt.


„Inventing Anna“. Autorin: Shonda Rhimes. 2022, neunteilige Serie mit insgesamt 602 Minuten. Auf Netflix.

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