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Netzwerk Nahtoderfahrung: Bewusstsein, Gehirn, Spiritualität

Das Netzwerk Nahtoderfahrung beleuchtet die unterschiedlichen Wege, die derzeit in der Nahtodforschung beschritten werden
Abstract car in the tunnel trajectory
Foto: adobe.stock | Abstract car in the tunnel trajectory

Neue Wege der Nahtodforschung“ lautete das Thema der Jahrestagung des „Netzwerks Nahtoderfahrung“. Der Psychologe und Philosoph Professor Alexander Batthyány von der Universität Wien sprach über „Terminale Geistesklarheit und verwandte Phänomene in Todesnähe“. Joachim Nicolay, Psychologe und Theologe aus Lemberg, befasste sich in seinem Vortrag „Hermeneutik der Nahtoderfahrungen“ mit konkreten Inhalten von Nahtoderfahrungen (NTE) jenseits von Statistik. Eckart Ruschmann, Philosoph aus Bregenz referierte über „Das umstrittene Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein“.

Dement, aber kurz vor dem Tod wieder geistig völlig auf der Höhe

Professor Batthyány lehrt am Forschungsbereich Kognitionswissenschaften der Universität Wien, ist Direktor des Viktor-Frankl-Instituts und Inhaber des Liechtensteiner Viktor-Frankl-Lehrstuhls. Sein Vortrag befasste sich mit dem seltsamen Phänomen, dass Patienten, die dement und zu einer Kommunikation kaum noch in der Lage sind, kurz vor ihrem Tod auf einmal wieder geistig völlig auf der Höhe sind. Zu diesem Zeitpunkt sind die körperlichen Krankheitsprozesse bereits so weit fortgeschritten, dass dies nicht mehr wahrscheinlich erscheint. Batthyány berichtete von einer komplett dementen Patientin, die fünf Stunden vor ihrem Tod plötzlich aktiv wurde, Kinder und Enkel anrief und normal mit ihnen sprach. „Diese plötzliche Luzidität ist neurologisch unerklärlich“, stellte er fest.

Generell stellten sich bei Alzheimer und Demenz philosophische Fragen: Wohin ist der Mensch gegangen, den ich kannte? Wo ist die Seele hin, wenn ein eleganter und warmherziger Mensch plötzlich aggressiv ist? Ein Argument: Diese Eigenschaften hängen vom Gehirn ab, wenn es beschädigt ist, sind sie nicht mehr da. „Das heißt: Der Mensch ist das Gehirn!“ Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl habe dagegen die Position bezogen, dass die Persönlichkeit immer noch vorhanden sei, sich aber nicht mehr äußern könne. Die Grundfrage laute demnach: „Ist die Person zerstört oder gestört?“

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Naturgesetze sind nicht in Stein gemeißelt

Der Wahrnehmungsforscher Bruce Greyson erklärt das Phänomen dergestalt, dass Naturgesetze nicht in Stein gemeißelt seien – siehe Quantenphysik, Relativitäts- und Chaostheorie. Naturgesetze funktionierten gut im Alltagsleben, in Grenzsituationen wie der Todesnähe weniger. Greyson hat mit dem Biologen Michael Nahm die Sammlung „Terminal Lucidity: A case collection“ („Terminal Geistesklarheit: Eine Fallsammlung“) zusammengestellt.

Batthyány hat eine Studie mit 210 Personen im Alter von zehn bis 99 Jahren durchgeführt. Sie mussten an Demenz leiden und kurz vor dem Tode stehen. 81 Prozent von ihnen waren hochdement, desorientiert, apathisch oder bewusstlos. Über 90 Prozent waren im Zustand der terminalen Geistesklarheit völlig normal. Es kam zu einer kompletten Remission der Demenz.

„Es scheint also einen unzerstörbaren Kern zu geben“ schlussfolgerte der Forscher. Oft halten diese Phänomene allerdings so kurz an, dass man sie nicht mitbekommt, wenn man nicht konkret danach sucht. Jedoch: Über 90 Prozent der Teilnehmer zeigten das Phänomen gar nicht. Das bedeutet: Zehn Prozent der Probanden hatten eine terminale Geistesklarheit, 90 Prozent hatten sie nicht und starben in geistiger Umnachtung. „Weder die Ursache noch der Mechanismus dafür sind bekannt“, erklärte Batthyány, „und weltweit forschen lediglich zehn Wissenschaftler an dem Phänomen.“ Ganz selten lebten Menschen nach einer terminalen Geistesklarheit weiter – zu wenige, um daraus Schlüsse zu ziehen. Immerhin wurden in den USA nun neue Finanzmittel für weitere Forschungen bewilligt.

In der Hermeneutik, der „Kunst des Verstehens“, geht es um die Inhalte.

Joachim Nicolay, Vorsitzender des Netzwerks und Nahtodforscher der ersten Stunde befasste sich mit der „Hermeneutik der Nahtoderfahrungen“. Den sperrigen Begriff erklärte der Referent sofort allgemeinverständlich: Es geht hierbei um das Verstehen und Interpretieren von Texten. Wo die Naturwissenschaft nur zählt und rechnet, geht es der Hermeneutik, der „Kunst des Verstehens“, um die Inhalte.

Der Nahtod-Pionier Raymond Moody habe aus gerade einmal 50 Berichten charakteristische Elemente einer NTE herauskristallisiert. Danach setzte mit Kenneth Ring und Bruce Greyson die naturwissenschaftliche Forschung ein. Das Problem der naturwissenschaftlichen Untersuchungen war: „Der Schatz wurde nicht gefunden, man hatte nur die Kiste: Ihr Inhalt interessierte nicht!“ Durch systematisches, neutrales, vorurteilsfreies und ergebnisoffenes Vorgehen will die Hermeneutik zu ihm vordringen.

„Eine spezifische Form gibt es nicht. Dunkelheit ist nicht obligatorisch und die Bewegung hindurch ist nicht spezifisch, hauptsächlich ist es ein Schweben, es gibt aber auch Kriechen oder Laufen“
Joachim Nicolay, Vorsitzender des Netzwerks und Nahtodforscher

Nicolay erklärte anhand der Übergangsphase den Unterschied zwischen Oberflächen- und Tiefenstrukturen. Diese Phase biete die Erfahrung des Unterwegsseins. Ziel ist ein fernes Licht. Jedoch haben nur 39 Prozent der Nahtoderfahrenen einen Tunnel wahrgenommen, andere einen Weg, eine Straße, einen Gang, eine Treppe, einen Bergpass. Manche haben einen Himmelsaufstieg bemerkt, sind direkt ins Licht gegangen oder aus dem Dunkel ins Licht. Es gibt Fälle ohne Dunkel, ohne Optik, nur mit Empfindungen. 45 Prozent haben keinen Tunnel gesehen. Eine Tunnelerfahrung ist also nicht zwingend. „Eine spezifische Form gibt es nicht. Dunkelheit ist nicht obligatorisch und die Bewegung hindurch ist nicht spezifisch, hauptsächlich ist es ein Schweben, es gibt aber auch Kriechen oder Laufen“, berichtete Nicolay.

Was steckt dahinter? Die Tiefenstrukturen unterteilte Nicolay in Leit-, Hintergrund- und Begleitmotiv. Das Leitmotiv ist die angenehme Anziehungskraft des Lichts, verbunden mit dem Gefühl von Gelassenheit, Leichtigkeit und Vorfreude. Als Hintergrundmotiv komme das Bewusstsein hinzu, sich in eine außerweltliche Dimension hineinzubewegen. Ein feierliches Gefühl, eine spirituelle Qualität des Erlebens gehe damit einher. Das Begleitmotiv schließlich ist das unmissverständliche Gefühl, zu sterben. Dies löst aber keine Angst mehr aus, der Tod erscheint eher attraktiv.

Der Tunneleffekt ist eine Erinnerung an die Geburt

Für den Tunneleffekt gibt es Erklärungsmuster. Für den Psychologen ist sie die Erinnerung an die Geburt. Der Physiker spricht vom „Searchlight“-Effekt: Eine Bewegung in Lichtgeschwindigkeit erzeuge ein Tunnelempfinden. Der Physiologe ist sich sicher: Die Minderdurchblutung der Netzhaut erzeuge den Tunneleffekt und den Lichteindruck. Solche Erklärungen bewegen sich an der Oberfläche. Entscheidend sind aber die Tiefenstrukturen. Maßstab für kulturelle Vergleiche muss der spirituelle Gehalt der NTE sein.

Mit dem „Umstrittenen Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein“ befasste sich Eckart Ruschmann aus Bregenz. Er ist habilitierter Philosoph der Universität Klagenfurt und hat an Fachhochschulen und Universitäten gelehrt.

Das Gehirn produziert das Bewusstsein

Die Naturwissenschaft gehe derzeit davon aus, dass es ohne Gehirn kein Bewusstsein geben kann. „Das ist das ultimative Argument der Skeptiker gegen NTE“, sagte Ruschmann. Die Auffassung gehe auf den Begründer der US-amerikanischen Psychologie, William James (1842–1910), zurück. James nahm eine definitorische Engführung der Psychologie in Richtung Naturwissenschaft vor. Eine Abhängigkeit von Bewusstseins- und Gehirnzuständen sei grundlegend. Körper, Geist und Seele seien Teile eines einheitlichen Organismus. Ein Gegensatz von Leib und Seele bestehe nicht, James ersetzt ihn durch einen psychophysischen Funktionalismus: Das Gehirn produziert das Bewusstsein („Produktionstheorie“). Ändert sich die Gehirnaktivität, etwa durch Drogen, ändert sich auch das Bewusstsein. „Diese Auffassung hält sich bis heute, etwa bei dem Philosophen und Atheisten Holm Tetens“, erklärte Ruschmann. Demgegenüber stelle der amerikanische Philosoph John Martin Fischer in seinem „Immortality Project“ die Frage, wie physikalische und nicht-physikalische „Dinge“ miteinander interagieren. Dies zu erklären, wäre Aufgabe eines Supernaturalismus, der über die gewöhnliche Realität hinauszublicken wage.

Gegen die Argumente der Skeptiker sprächen religiöse und mystische Erfahrungen, Hellsehen und Visionen, mediale Fähigkeiten und Sterbebettvisionen. Die Produktionstheorie kann sie nicht erklären. Bertold P. Wiesner und Robert Thouless gingen daher 1947 davon aus, dass es zwei Arten von Erfahrungen gebe: die sinnliche Wahrnehmung und ihre mentale Verarbeitung sowie mentale Äußerungen ohne Sinneseindrücke, die Informationen über die raumzeitliche Wirklichkeit wiedergeben.

Der Satz „Das Leben hat von der Materie Besitz ergriffen“ beschreibt den Ansatz des Physikers Walter Heitler. Er habe versucht, Naturwissenschaft und Transzendenz zusammenzubringen und aus christlichem Glauben Beziehungen zwischen der physischen Erfahrungswelt und der metaphysischen Offenbarungswelt anhand von Texten aus der Bibel zu erkennen. Weitere Vorträge hielten der Physiker Professor Andreas Neyer über Quantenphysik und NTE sowie die Pädagogin Silke Morche über pädagogische Konzepte und NTE.

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