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La Salette: Wo Maria Tränen vergoss

Die Worte der weinenden Muttergottes in La Salette sind eine zeitlos aktuelle Mahnung.
Marienerscheinung in La Salette
Foto: IN | Mit Lourdes und der Rue du Bac in Paris gehört das Gebirgsdorf La Salette zu den bedeutenden Marienwallfahrtsorten Frankreichs.

Keine Marienerscheinung gleicht der anderen, auch wenn das, was sich hier wesentlich ereignet, immer von gleicher Substanz ist. Die Erscheinung der Muttergottes am 19. September 1846 vor den beiden Hirtenkindern Mélanie Calvat (15 Jahre) und Maximin Giraud (11 Jahre) auf einem Berg hoch über der südfranzösischen Gemeinde La Salette-Fallavaux nimmt in der Reihe der von der Kirche anerkannten Erscheinungen eine ganz besondere Stellung ein, die auch durch die zeitliche Nähe zu den Erscheinungen in der Pariser Rue du Bac (1830) und Lourdes (1858) zu erklären ist.

Botschaft der weinenden Mutter Gottes von La Salette

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde die Botschaft der weinenden Mutter Gottes von La Salette, die berichtet, dass sie den Arm ihres Sohnes, der auf die Menschheit hinabzufallen droht, hochhält, aufgrund ihrer düsteren Aussagen – „Gott wird in beispielloser Weise zuschlagen“ –, ihrer unverhohlenen Warnungen an die Menschheit – „Die Erde wird dann mit allerlei Plagen geschlagen werden“ – und vor allem aufgrund ihrer offenen Kritik am Klerus – „Die Priester, Diener meines Sohnes, die Priester sind durch ihr schlechtes Leben, ihre Ehrfurchtslosigkeiten, ihre Pietätlosigkeit bei der Feier der heiligen Geheimnisse, durch ihre Liebe zum Gelde, zu Ehren und Vergnügungen Kloaken der Unreinigkeit geworden“ –, alle Zitate aus der sogenannten „Großen Botschaft von La Salette“, 1873 nur ungern gehört.

Léon Bloy, der, im Jahr von La Salette geboren, sich nach Ludwig Maria Grignon de Montfort zum Sklaven der Muttergottes der Tränen machte und drei Bücher über dieses Ereignis und seine theologische Bedeutung schrieb, hat sich sein Leben lang dafür eingesetzt, dass diese Botschaft präsent bleibe. Zahlreiche historische Ereignisse und viele persönliche Katastrophen hat er im Rückgriff auf die Botschaft von La Salette zu verstehen gesucht. Er selbst war ein Mystiker der Tränen. Weinen war für ihn stets ein Zeichen von Wahrheit. Sein eschatologisches Denken ist durch und durch salettinisch. Bloy und viele andere La Salette-Verehrer stießen im 19. Jahrhundert gegen eine unsichtbare Wand, die beileibe nicht nur von Agnostikern gebildet wurde. Nur zu oft wurde die Botschaft von La Salette auch im Klerus gegen die sanften Worte von Lourdes ausgespielt, ohne dass man es wirklich wagte, die Echtheit von La Salette in Zweifel zu ziehen.

Die Seherin von La Salette

Die Seherin von La Salette musste dieses Unbehagen, das die Worte der weinenden Mutter Gottes bei ihren Zeitgenossen auslösten, am eigenen Leib erfahren. Sicher, auch Bernadette Soubirous wurde in ihrem Klosterleben das Ziel von Attacken ihrer Superiorin. Mélanie Calvat jedoch, die im Alter von 73 im italienischen Altamura starb, trug noch schwerer an ihrem Seherinnen-Erbe: Ihr wurde zunächst die Profess verwehrt, sie wanderte dann von Orden zu Orden, bis sie 1864 endlich in einem Marseiller Karmel zum Noviziat zugelassen wurde, aber nur unter der Bedingung, ihre Identität geheim zu halten, was natürlich nicht gelang. Also musste sie weiterziehen und lebte schließlich die letzten 17 Jahre allein in Süditalien.

Maximin erging es noch schlimmer. Er führte ein unstetes Leben voller Schulden. Offensichtlich ist das das Schicksal derjenigen, die Maria von Angesicht zu Angesicht entgegentreten durften: nicht mehr aufgenommen zu werden in dieser Welt, weil sie mit der Botschaft gleichgesetzt werden, die sie doch nur überbringen sollten.

Wallfahrtsort mit tausenden Pilgern

Heute ist La Salette ein von kahlen, rauen Bergwiesen eingerahmter Wallfahrtsort, der jährlich tausende Pilger empfängt, die mit Bussen die steile Bergstraße ohne Leitplanken hinauffahren.

2007 starben 26 polnische Pilger, als ihr Bus in den Abgrund kippte, weil die Bremsen versagten.

Notre-Dame de La Salette
Notre-Dame de La Salette

Bloy war noch zu Fuß oder mit Muli unterwegs. Der Aufstieg dauerte einen halben Tag. Oben erwarteten ihn damals schon die 1865 errichtete Basilika und die schönen, lebensgroßen Bronzefiguren, die an das Ereignis der Erscheinung erinnern sollen.

Auch den 1852 gegründete Orden der Salettiner (Missionare Unserer lieben Frau von La Salette) gab es damals schon, als Bloy das erste Mal die Passhöhe erklomm. Wie bei ihm nicht anders zu erwarten, berichtete er äußerst negativ über die Umstände seiner Aufnahme: Den Pilgern würde das Geld aus der Tasche gezogen, Arme würden nicht kostenlos gespeist, die Worte Mariens nicht verstanden, und so weiter. Man muss solche Worte aus seiner Biografie verstehen. Was er zum Glück noch nicht kennen konnte, ist jene klobige Konstruktion, die sich „Pilgerzentrum“ nennt und die den geistlichen Charme eines Bunkers hat. Wahrscheinlich müssen Pilgerzentren so aussehen. Bloy hätte ihm wahrscheinlich einen Essay mit dem Titel „Der Brutkasten des Teufels“ gewidmet.

Vorbereitung auf die Pilgerfahrt

Es ist nicht einfach, als Pilger durch den Trubel, der solche Stätten wie La Salette und Lourdes umgibt, hindurch zu dringen zum spirituellen Ort, zum wahrhaften genius loci. Das setzt eine gute Vorbereitung auf die Pilgerfahrt, eine gründliche Beichte und viel guten Willen vor Ort voraus. Besinnung auf das eigene Leben, die eigene Schuld, die eigenen Absichten – das ist es, was den Pilger gegen jenes vage Gefühl, zu einer spirituell bewegten Masse zu gehören, abschirmen kann. Denn jeder, der nach La Salette pilgert, schlüpft in die Rolle der Seherkinder, auch wenn er nicht mehr deren reines Gemüt hat. Was die Semantik der Botschaften angeht, so sollte man davon ausgehen, dass weder der Heilige Geist noch die Muttergottes sich widersprechen, sondern dass die Worte, die sie an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten an die Menschen richteten, in einem unsichtbaren, für uns nur erahnbaren Zusammenhang stehen.

Stark vereinfacht ließe sich sagen: Die Botschaft von La Salette ist eine Botschaft der göttlichen Gerechtigkeit, die Botschaft von Lourdes eine der göttlichen Barmherzigkeit. Gott ist gerecht und barmherzig zugleich: „Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Gnade.“ (Psalm 145, 8); „Der Herr ist gnädig und gerecht, unser Gott ist barmherzig.“ (Psalm 116, 5).

Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind keine entgegengesetzten Pole, sondern letztlich identisch, denn Barmherzigkeit ist nichts anderes als Ausübung göttlicher Gerechtigkeit dem gefallenen, von Gott entfernten Menschen gegenüber. Falsch ist, Barmherzigkeit an menschlichen Maßstäben zu messen, und diese heute so verbreitete Denkart nimmt in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang, als die theologische Kasuistik versuchte, die Botschaft vom Berg abzumildern und zu relativieren. Auch die Diskussion um die Sakramentenseelsorge ist als ein Versuch zu sehen, menschliche Maßstäbe für göttliche Barmherzigkeit geltend zu machen. La Salette ist also aktueller denn je.

Karte: Unsere Liebe Frau von La Salette

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