Die Szene ist dokumentiert: Eine einfache Russin steht vor einer orthodoxen Kirche, einen handgeschriebenen Zettel in den Händen. Darauf steht: „5. Gebot: Du sollst nicht töten!“ Sie steht nur wenige Minuten dort, bevor Uniformierte erscheinen und sie abführen. Einer der wenigen russisch-orthodoxen Priester, die es wagten, für den Frieden zu beten, wurde verhaftet. Allein den Krieg Putins gegen die Ukraine als solchen zu bezeichnen, ist in Russland strafbar; wer die Armee oder ihre Führung kritisiert, muss mit mehrjährigen Haftstrafen rechnen.
Einer aber steht über dem Gesetz und kann sich alles erlauben: Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin. Er pfeift auf die Sprachregelungen des Kreml, veröffentlicht Videos, in denen er den Verteidigungsminister und den Generalstabschef in vulgärster Sprache beschimpft und der Unfähigkeit beschuldigt, kritisiert die russische Armee und ihre Strategie, fordert drohend die sofortige Lieferung von Waffen und Munition an seine Söldner, präsentiert sich selbst vor Leichenbergen und offensichtlichen Kriegsverbrechen. Der Mann bekleidet kein Staats- oder Regierungsamt, hat keine Funktion in Militär oder Polizei. Warum darf der das?
Und warum darf der Privatmann Prigoschin in die Gefängnisse Russlands gehen und Schwerverbrechern Amnestie zusagen? Warum kann er Mörder und Vergewaltiger aus der Haft holen und an die ukrainische Front senden? Prigoschin leitet die paramilitärische „Wagner“-Gruppe, also etwas, das es in Russland offiziell gar nicht geben darf. Die Existenz dieser Truppe und die Unantastbarkeit ihres Führers ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass Putins Russland kein gesetzlich geordneter Staat ist, sondern ein Mafiastaat.
Wahre Macht zeigt sich an der Nähe zum Boss
In diesem Mafiastaat gibt es jenseits der offiziellen Strukturen eine Parallelarchitektur der Macht, neben den geschriebenen Gesetzen die ungeschriebenen Dogmen und Regeln. Die wahre Macht zeigt sich in der Nähe zum Mafiaboss. So funktioniert Putins Russland: Wer das Wohlwollen des Mafiabosses genießt, wird sagenhaft reich oder sensationell mächtig. Und solange das Wohlwollen des Mafiabosses auf ihm ruht, ist er unantastbar – steht jenseits der Reichweite von Gesetzen, weit über jeder Rechtsordnung.
Prigoschin darf morden und Mördern Amnestie gewähren, darf die Armeeführung beschimpfen und die Regierung beflegeln, denn seine vulgäre, unberechenbare, hemmungslos gewalttätige Rolle ist Putin dienlich: Sie ist eine permanente Drohung an die Regierungs- und Armeeführung, die Putin dafür verantwortlich macht, dass die „Spezialoperation“ eben nicht „nach Plan läuft“. Und sie lässt Putin selbst in den Augen vieler Bürger und mancher Oligarchen als das kleinere Übel erscheinen. Denn wenn der Mafiaboss Putin fällt, so sollen sie fürchten, könnte Prigoschin versuchen, sein Erbe anzutreten.
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