Polens Verfassungsgerichtshof hat den Weg für eine Reform der Abtreibungsgesetzgebung freigemacht. Am Donnerstag, dem Gedenktag des heiligen Papst Johannes Pauls II. erklärte das Oberste Gericht des Landes eine Regelung für verfassungswidrig, die vorgeburtliche Kindstötungen erlaubt, wenn Ärzte bei dem ungeborenen Kind zuvor eine schwere Fehlbildung diagnostiziert haben.
In Polen sind Abtreibungen seit 1993 grundsätzlich verboten. Ausnahmen von dem Verbot erlaubt das Gesetz derzeit in drei Fällen: Wenn das Leben der Mutter durch die Fortsetzung der Schwangerschaft ernsthaft gefährdet ist, nach Vergewaltigungen oder Inzest sowie bei schwerwiegenden Fehlbildungen des Fötus. Laut der offiziellen Statistik ist Letzteres bei weitem der häufigste Grund für eine Abtreibung. 2019 wurden 1.074 der rund 1.110 gemeldeten Abtreibungen so begründet. Meist handelt es sich dabei um das Down-Syndrom (Trisomie 21).
2018 hatte die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eine Novelle der Abtreibungsgesetzgebung erarbeitet, die vorgeburtliche Kindstötungen aufgrund von eugenischen Motiven verbieten wollte. Nach Protesten von Abtreibungsbefürworter zog die PiS die Vorlage jedoch zurück.
Abgeordnete riefen das Oberste Gericht um Prüfung an
Zu dem jetzigen Urteil kam es, weil 119 Abgeordnete der PiS und sowie der Oppositionsparteien „Konföderation der polnischen Krone“ (KKP) und „Kukiz'15“ den Verfassungsgerichtshof angerufen und die Prüfung der geltenden Gesetzeslage beantragt hatten. Nach Ansicht der Abgeordneten verstößt das geltende Gesetz gegen die Artikel 30 und 38 der polnischen Verfassung, in denen die Menschenwürdegarantie und der rechtliche Schutz des Lebens eines jeden Menschen geregelt wird.
Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil nun feststellte, ist „Artikel 4a Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes vom 7. Januar 1993 über Familienplanung, Schutz des menschlichen Fötus und die Bedingungen der Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (…) unvereinbar mit Artikel 38 in Verbindung mit Artikel 30 in Verbindung mit Artikel 31 Abs. 3 der Verfassung“. Es sei „inakzeptabel zu sagen, dass ein Individuum aufgrund einiger Merkmale weniger wert ist als andere“, erklärte die Vorsitzende Richterin Julia Przylebska bei der Vorstellung des Urteils
Kirche begrüßt das Urteil
Der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanislaw Gadecki, begrüßte die Entscheidung. Laut der katholischen Nachrichtenagentur „kathpress“ sprach Gadecki von einer „epochalen Gesetzesänderung“. Die Entscheidung bestätige, „dass der Begriff des ,lebensunwürdigen Lebens‘ in krassem Widerspruch zum Prinzip eines demokratischen Rechtsstaats steht. Jeder Mensch mit einem gerechten Gewissen ist sich bewusst, wie unerhört barbarisch es ist, jemandem das Recht auf Leben zu verweigern, besonders wegen seiner Krankheit.“ Kinder und ihre Familien müssten Wohlwollen und echte Fürsorge von Staat, Gesellschaft und Kirche erfahren, so Gadecki. Der Erzbischof von Krakau, Marek Jedraszewski, sagte bei einer Gedenkmesse für Papst Johannes Paul II.: „Man kann sich kaum eine großartigere Nachricht vorstellen, die heute bei der Feier hier im Johannes-Paul-II.-Heiligtum in Krakau überbracht werden kann." Die Verfassungsrichter hätten „Mut und Redlichkeit“ bewiesen.
Staatpräsident signalisiert Unterstützung
Die Regierung muss nun eine Novelle der Abtreibungsgesetzgebung erarbeiten und durch das Parlament bringen. In Kraft treten würde diese jedoch erst, wenn der polnische Staatspräsident Andrzej Duda sie auch unterschriebe. Agenturberichten zufolge hat Duda bereits signalisiert, ein derartiges Vorhaben zu unterstützen.
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