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Kartäuserkloster von Sevilla: Die Zeitmaschine

Im alten Kartäuserkloster von Sevilla dauert eine Reise durch ein halbes Jahrtausend keinen Wimpernschlag. Sie beginnt bei Alice im Wunderland und endet im Schatten eines Souvenirs, das Kolumbus aus der Neuen Welt mitbrachte.
Monasterio de la Cartuja / CAAC
Foto: Thomas Schneider | Viele Bauwerke haben verblüffende Karrieren hinter sich, aber nur wenigen steht ihre Vergangenheit so ins Gesicht geschrieben, wie dem einstigen Karthäuserkloster in Sevilla

Kirchenschiffe, Kapellen, Kreuzgänge und einige Fabrikschlote, so hoch, als wollten sie gegen den azurblauen Himmel klopfen. Auch beim zweiten Blick will einem der Fehler nicht auffallen. Zu perfekt passen die sandfarbenen Schornsteine in das beigebraune Ensemble der Anlage. Zu harmonisch fügen sich die bauchigen Brennöfen zwischen Kirchenmauern und Klostergarten ein, ganz so, als wäre der gesamte Komplex nie anders geplant gewesen. Warum auch nicht? Wenn Ordensbrüder andernorts Bier gebraut haben, dann können die Mönche im Monasterio de la Cartuja doch auch im industriellen Stil fleißig gewesen sein. Nicht recht ins Bild passt nur die Riesin, die Kopf und rechte Hand durch viel zu kleine Fenster zwängt. Alicia heißt die gewaltige Skulptur, die eine spanische Schwester von Alice im Wunderland darstellen soll und die einem endlich klar macht, wo man hier eigentlich hingeraten ist – ins Centro Andaluz de Arte Contemporáneo, kurz CAAC, das Andalusische Zentrum für zeitgenössische Kunst.

Kloster – Kerker – Kaserne

Was heute ein Kunsthaus ist, war tatsächlich auch schon mal Kloster, Kaserne, Kerker und Keramikfabrik – ein Ort vieler Geschichten, ein Ort der Geschichte. Historisch werden paradoxerweise ja oft jene Stätten genannt, denen es an Vergangenheit am meisten mangelt. Das jordanische Petra zum Beispiel, Ägyptens Luxor oder die Akropolis in Athen – lauter Plätze, die einen kurzen Boom erlebten, bevor die Zeit für sie stehen blieb und sie im Abseits der Geschichte landeten. Seither liegen sie da, aufgebahrt und wohlkonserviert, weshalb Besuche von Touristen auch immer etwas von Totenehrungen haben. Das Monasterio de la Cartuja in Sevilla hingegen hat sein Maß an Geschichte noch nicht aufgebraucht. Hier hat das Leben einen jahrhundertelangen Fortsetzungsroman geschrieben, und der begann Mitte des 13. Jahrhunderts auf einer der Altstadt von Sevilla genau gegenüber gelegenen Insel im Guadalquivir-Fluss.

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Dort wurde ein während der Zeit der islamischen Herrschaft verstecktes Bild der Jungfrau Maria gefunden. Ihr zu Ehren errichtete man an Ort und Stelle zunächst eine Einsiedelei und im 15. Jahrhundert schließlich ein Kloster. Zu Besuch kam oft ein Mann, der die Weltgeschichte ein für allemal verändern und Sevilla zu einem der größten Machtzentren der damaligen Zeit machen sollte – Christoph Kolumbus. In der Ruhe und Abgeschiedenheit des Klosters bereitete er seine Expeditionen nach Südamerika vor, studierte in der Klosterbibliothek Dokumente über die Kunst der Navigation und ließ sich bei der Korrespondenz mit den katholischen Königen von den Kartäuserbrüdern unterstützen. Wegen seiner engen Verbundenheit zum Kloster ließ man nach seinem Tod Kolumbus Gebeine in die Krypta der Sankt-Anna-Kapelle überführen. Als die französischen Besatzungstruppen Anfang des 19. Jahrhunderts das Kloster plünderten und eine Kaserne einrichteten, hatte man Kolumbus Überreste schon längst auf die Karibikinsel Hispaniola geschickt und in der Kathedrale von Santo Domingo bestattet. Die Zwischennutzung als Kaserne hinterließ ebenso wenig Spuren wie die kurze Zeit nach der endgültigen Auflösung der Ordensgemeinschaft im Jahr 1835, in der die Klosterräume als Gefängnis dienten. Dann jedoch erwarb der Engländer Charles Pickman die Gebäude, richtete dort eine moderne Industrieanlage mit Öfen, Werkstätten und Lagerhallen ein und begann 1841 mit der Massenproduktion von Keramik. Pickmans Porzellanfabrik wurde zu einer der bekanntesten in Europa und stellte den Betrieb erst 1982 ein. Anlässlich der Weltausstellung Expo 1992 in Sevilla wurde der ganze Komplex restauriert und schließlich zur Heimat für das Zentrum für zeitgenössische Kunst.

Verdichtete Geschichte

Viele Bauwerke haben ähnlich verblüffende Karrieren hinter sich, aber nur wenigen steht ihre Vergangenheit so ins Gesicht geschrieben, wie dem einstigen Karthäuserkloster in Sevilla. Es ist eine verdichtete, stets vermehrte Geschichte, von den Mauern des Klosters aufgesogen und bewahrt, so dass das Monasterio de la Cartuja aus allem besteht, was je in ihm gesagt, geträumt, gebetet und getan wurde. Aus den Rufen der namenlosen Männer, die Steine nach Entwürfen zurechtmeißelten, die sie aus dem Kalifenreich der Mauren übernahmen; aus dem Getöse der napoleonischen Invasion; aus den gesponnenen Intrigen der spanischen Könige, die jahrhundertelang ins Kloster kamen, um Heilige zu ehren und Politik zu machen; und aus dem Rauschen und Klackern des Diaprojektors der letzten Ausstellung moderner andalusischer Künstler. Alles längst vergangen und doch gegenwärtig, weil es in den Erinnerungen von Generationen weiterlebt und unauslöschlich eingeschrieben ist in den Ort des Geschehens. Tatsächlich kann man im Kloster lesen wie in einem Buch und auf jeder beliebigen Seite beginnen, bei marmornen Renaissance-Gräbern oder zeitgenössische Videoinstallationen, bei Dekorationen im Mudéjar-Stil oder der Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts. Ein Vor- und Zurückgehen durch Raum und Zeit, durch ein halbes Jahrtausend, das von der Mystik des Mittelalters reicht bis zur Schönheit der Schornsteine in ihrem Zu-nichts-mehr-nütze-Sein.

So ein Schatz blüht im Zeitalter des Massentourismus nicht im Verborgenen. Dennoch belagern keine Touristenbusse das Kloster, und in den weitläufigen Gärten der Anlage kann man noch in einer Stille spazieren, die nur bei völliger Abwesenheit anderer Menschen zu haben ist. Ein heilkräftiger Ort, der im übervollen und lärmenden Sevilla eine kleine Sensation darstellt und der seine Besucher ein letztes Mal auf Zeitreise schickt, wenn sie sich unter dem baldachinähnlichen Blätterdach des Ombú-Baums verstecken. Phytolacca dioica lautet sein botanischer Name. Die Spanier nennen ihn auch Bellasombra, schöner Schatten. Er ist einer der ersten Bäume, die von Christoph Kolumbus aus Südamerika mit auf die Iberische Halbinsel gebracht wurden. Den mächtigen Ombú im Klostergarten hat Kolumbus' Sohn Fernando gepflanzt. Ein über 500 Jahre alter, schöner Schatten, unter dessen weitem Blätterhimmel man prima von anderen Welten und Zeiten tagträumen kann.

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