Es ist still in dem kleinen Häuschen, das an diesem Dienstagmorgen nur wenige Besucher empfängt. Die freundliche afrikanische Ordensschwester hingegen ist gar nicht still: Mit einem Eifer, der nur aus echter Begeisterung für den Gegenstand ihrer Ausführungen kommen kann, führt sie durch die Zimmer. Es ist das Geburtshaus der heiligen Therese vom Kinde Jesu im normannischen Alençon. Ihre Wiege steht hier und das Bett, in dem Therese geboren und ihre Mutter gestorben ist, Möbel und Gegenstände aus dem Familienleben der Martins, die erst nach dem Tod von Mutter Zélie in das heute bekanntere Lisieux zogen. Aber hier in Alençon bleibt mehr als Erinnerung: Das Haus des heiligen Ehepaars Louis und Zélie Martin ist – neben der Basilika – das Herzstück des Wallfahrtsorts und des Zentrums Louis und Zélie Martin, das sich besonders der Familienpastoral verschrieben hat.
„Louis und Zélie waren keine Ordensleute, sondern Laien. Ihr Glaube und ihre Heiligkeit haben sich in ihrem Alltag entfaltet: in der Ehe, in der Arbeit, in der Erziehung ihrer Kinder“, erklärt Pater Thierry Hénault-Morel, der Wallfahrtsdirektor. Gerade darin liege das Besondere: Ihr Zeugnis wurzele im täglichen Leben, das auf heroische Weise gelebt wurde. Unterstützt wird Hénault-Morel bei der Leitung des Ortes durch einen Generalsekretär, Grégoire Moreau, der sich um Organisation, Verwaltung und die vielen Freiwilligen kümmert.
Heiligkeit ist nicht Perfektion
Der Wallfahrtsort Alençon will bewusst ein geistliches Zentrum für den Alltag sein. „Louis und Zélie zeigen, dass Heiligkeit nicht Perfektion ist“, sagt Moreau. „Sie erlebten Krankheit, wirtschaftliche Sorgen und den Tod von vier Kindern, verloren aber nie das Vertrauen in Gott. Das Leben der Martins berührt alle möglichen Lebenssituationen: Verlobung, Ehe, Familie, Beruf, Krankheit, Tod – sie haben alles durchlebt.“ Deshalb sei das heilige Ehepaar für Menschen mit allen möglichen Sorgen ein trostvoller Bezugspunkt. Pater Hénault-Morel ergänzt: „Ihr Leben war geprägt von einer tiefen Einheit zwischen Gottes- und Nächstenliebe. Sie haben Gott den ersten Platz gegeben – ‚Gott zuerst’ –, und daraus folgte alles andere.“
Zélie, eine begabte Klöpplerin, wollte als junge Frau den Armen dienen und ins Kloster gehen. Louis, gelernter Uhrmacher, hatte Mönch am Großen Sankt Bernhard in den Alpen werden wollen, bevor er in Alençon sesshaft wurde – so beginnt Moreau die Geschichte des außergewöhnlichen Paares. Beide fanden ihre Berufung erst in der Ehe. „Viele, die zu uns kommen, suchen genau das“, ergänzt Hénault-Morel. „Eine Richtung im Leben, eine Berufung, einen Weg in den Himmel, der aber eben nicht unbedingt über das geweihte Leben geht. Wir wollen Menschen hier helfen, ihre Berufung im Alltag zu leben.“ Geistliche Begleitung und das Zuhören gehören zur täglichen Aufgabe des Heiligtums. Neben den Pilgerangeboten und vielen Gesprächspartnern vor Ort gibt es eine Telefonseelsorge, die Menschen in familiären Krisen begleitet. Jeden Monat erreichen über tausend Gebetsanliegen das Zentrum.
Im Gespräch fällt auf, wie persönlich Hénault-Morel über die Martins spricht. Dafür gibt es auch einen Grund: „Ich bin über meinen Urgroßvater tatsächlich mit der Familie verwandt. Er war ein Cousin der kleinen Therese.“ Dass der Priester Bart und Frisur des heiligen Louis trägt, scheint also kein Zufall zu sein. Anders als Hénault-Morel stammt Grégoire Moreau nicht aus Alençon, hat aber ebenfalls seine ganz persönliche Geschichte mit Louis und Zélie. Er und seine Frau verloren vor 15 Jahren ein Kind. In der Zeit beteten sie viel zu dem Ehepaar, das gerade seliggesprochen worden war. Trotz schwerer Krankheit wurde Moreaus Frau wieder schwanger, erst mit Zwillingen und dann noch einmal mit einem kleinen Louis, der ausgerechnet an einem 1. Oktober, dem Festtag der heiligen Therese vom Kinde Jesu, zur Welt kam.

Das Zentrum Louis und Zélie Martin richtet jedes Jahr zahlreiche Wochenenden, Aktivitäten und Begegnungen aus: für Verlobte, die sich auf das Sakrament der Ehe vorbereiten, für Paare, die ihre Beziehung vertiefen möchten, und für alleinerziehende Mütter, die hier Urlaub und geistliche Begleitung verbinden. Es gibt Ferienwochen für Großeltern, die sich nach einem Sommer mit den Enkelkindern erholen, ebenso wie Treffen der „Équipes Notre-Dame“, die Ehepaare in ihrem Glaubensleben stärken.
Das Heiligtum selbst umfasst mehrere Orte: das Haus der Familie Martin, die Basilika Notre-Dame, in der Louis und Zélie geheiratet haben, das Pilgerhaus, eine Boutique und ein geistliches Zentrum, in dem Begegnungen, Gebete und Schulungen stattfinden. Ein besonderer Anziehungspunkt ist das Reliquiar der heiligen Eheleute Martin, das seit diesem Jahr in einer eigens gestalteten Kapelle in der Basilika ruht. Für Moreau ist ein weniger bekannter Ort in Alençon ein weiterer persönlicher Bezugspunkt: der „Pavillon“ von Louis Martin. Ein kleines Haus mit Garten direkt am Fluss, das Louis noch vor seiner Heirat kaufte. „Das zeigt gut, wie Louis war: engagiert im Beruf, in seiner Familie, in der Gemeinde, aber zugleich jemand, der sich gerne zurückzog zum Beten, Lesen oder Fischen. Hier zeigt sich für mich die ausgeglichene Spiritualität des Heiligen.“ Auch die Brücke steht noch, auf der Louis und Zélie sich zum ersten Mal begegneten und Zélie in ihrem Herzen eine Stimme hörte, die ihr sagte: „Das ist der, den ich für dich bereitet habe.“ Drei Monate später heirateten die beiden.

Zwei Ordensgemeinschaften leben hier und tragen das geistliche Leben mit. Keine Klausurorden, sondern apostolische Gemeinschaften, die Gebet und Mission verbinden. Die Schwestern kamen vor vierzig Jahren aus Brasilien, die Brüder folgten später. Sie beten, empfangen Pilger, gestalten die Liturgie und helfen bei der geistlichen Begleitung. „Man spürt ihre Freude und ihr Feuer“, sagt Moreau. „Sie bringen eine unglaublich ansteckende Herzlichkeit mit.“ Rund 50 ehrenamtliche Helfer unterstützen sie, vom Empfang über Führungen bis zur Wallfahrtsorganisation.
Pilger gehen verändert nach Hause
Jahr für Jahr kommen etwa 25.000 Menschen nach Alençon, Familien, Paare, Pilgergruppen, Einzelne. Sie besuchen das Geburtshaus, die Basilika und besonders die kleine Kapelle mit dem Reliquiar der Heiligen. Hier erneuern auch jedes Jahr um das Fest der beiden Heiligen im Juli Ehepaare ihr Eheversprechen. Manche kommen auch, um in der Pilgerunterkunft ihre Ferien zu verbringen, andere feiern mit der ganzen Familie ein Ehejubiläum und können das ganze Wochenende bleiben. „Manchmal“, erzählt Hénault-Morel schmunzelnd, „kommt jemand nur, um ‚das Museum’ zu sehen – und geht verändert hinaus. Eine Frau sagte mir einmal: ‚Ich kam hierher, um das Leben anderer zu besichtigen und habe mein eigenes wiedergefunden.’“ Und: Wenn du nicht nach Alençon kommst, kommt Alençon zu dir: Mitarbeiter und Freiwillige des Wallfahrtsorts begleiten das Reliquiar auf seinen Reisen durch Frankreich und bald auch ins Ausland.
Ganz und gar nicht still wird es in Alençon an diesem 18. Oktober zugehen, dem zehnten Jahrestag der Heiligsprechung von Louis und Zélie Martin durch Papst Franziskus. Zu diesem Festtag richtet das Zentrum ein großes Wochenende für Familien aus, die hier Trost, Unterstützung und fröhliche Gemeinschaft finden. Ob Céline sich das damals hatte träumen lassen, als sie das Geburtshaus ihrer Schwester Therese zu deren Heiligsprechung 1925 hatte restaurieren lassen?
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