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Auf der Suche nach Europas Frieden

Wir stehen vor der Wahl: Schrecken ohne Ende oder ein Ende mit Schrecken. Eine märchenhafte Vision lädt zum Mitmachen ein – der Ausgang hängt von uns ab
Europa am Scheideweg
Foto: IMAGO/kip02kas (www.imago-images.de) | Die derzeitige prekäre Situation ruft nach einem Revival christlich-europäischer Werte. Jeder Einzelne ist da gefragt.

Es war einmal ein Land, ein großes Land. Es war kein Kaiserreich und auch kein Königreich, obwohl manche Gebiete von Monarchen und Fürsten regiert wurden. In diesem wunderschönen und kulturell reichen Land, in dem die meisten Menschen gut ihr Auskommen finden konnten, herrschte Frieden zwischen den zum Teil sehr unterschiedlichen Regionen. Die Regierungen der verschiedenen Gebiete waren sich in so manchen Fragen nicht einig, konkurrierten untereinander und blockierten sich auch immer wieder. Es wäre übertrieben zu behaupten, sie hätten stets versucht, gemeinsame Lösungen zu finden. Aber zumindest in wichtigen Fragen, wenn es wirklich darauf ankam, taten sie das und bemühten sich wenigstens um einen gemeinsamen Weg. Was auch immer wieder – mal besser, mal schlechter – gelang.

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Da Frieden und Wohlstand herrschten, setzte man vor allem darauf, die Wirtschaft anzukurbeln, den Wirtschaftsraum weiter zu vergrößern und Handelsbarrieren abzubauen. Für eine dieser Wirtschaftshürden hielt man die hohen Kosten für die Verteidigung und fuhr diese daher immer mehr zurück. Warum sollte man für Soldaten, Waffen und militärische Infrastruktur Jahr für Jahr erhebliche Summen ausgeben, wenn man sich nach dem letzten großen Krieg und dem über Jahrzehnte erfolgten Zusammenrücken der Gebiete doch sicher war, endlich eine Friedensdividende kassieren zu können? Diese Einstellung wurde dadurch noch verstärkt, dass man meinte, sich auf ein weit entferntes, verbündetes Land verlassen zu können, das schon seit eh und je immer wieder eingesprungen war, wenn sich eine Krise oder ein Konflikt auftat. 

Alles auf die „Karte Wirtschaft“

Zu dieser Leichtfertigkeit kam noch der übermütige Leichtsinn, zu glauben, man könne mit Wirtschaft Außenpolitik machen, massive Unterschiede in Werten und Prinzipien könnten durch wirtschaftliche Bande nachhaltig abgebaut oder wenigstens dauerhaft überbrückt werden. Man setzte also alles auf die Karte „Wirtschaft“, lagerte essenzielle, sogar existenzielle Produktionen aus, weil es anderswo billiger war. In Wahrheit wurde dadurch aber die eigene Resilienz geschwächt und die wirtschaftliche Abhängigkeit verstärkt. Gleichzeitig gab man den Feinden des Landes durch diese Handelsbeziehungen innen- und außenpolitische Legitimität, ja internationales Ansehen. Vor allem aber löste sich die moralische Autorität, zum Beispiel glaubwürdig und eindrucksvoll für Demokratie und Menschenrechte einzutreten, immer mehr in Luft auf.

Diese Entwicklung hätte für alle, wirklich alle – Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, ja sogar die Wirtschaft – alarmierend sein müssen. Denn in unserem Land hatte man sich als Reaktion auf den letzten großen Krieg darauf verständigt, die Grundrechte jedes Menschen zu definieren und zu schützen. So entstand eine Menschenrechtskonvention, die mittels internationaler bindender Verpflichtungen ein starkes Fundament für Menschenrechte, Freiheit, Demokratie und Frieden sein sollte.

Doch als nach diesen Zeiten von Wohlstand, Frieden und einer großen Portion naiver Unbeschwertheit plötzlich dunkle Wolken in Form einer Pandemie aufzogen, wurde die ganze Welt und nicht zuletzt auch unser Land vor unglaubliche Herausforderungen gestellt. Schnell stieß man auf vielen Ebenen an seine Grenzen, und trotz des anfänglichen Zusammenhalts entwickelte sich rasch eine umfassende Krise. Kaum hatte man diese herausfordernde Prüfung überstanden, die die Gesellschaft tief gespalten und die Wirtschaft nachhaltig geschwächt hinterließ, kam der nächste Schlag – eigentlich die nächsten schweren Schläge. Man musste schockiert feststellen, dass aus Gegnern, die man sich jahrelang schöngeredet hatte, schlagartig Feinde wurden. Man musste schmerzlich erkennen, dass Verbündete auf einmal nicht mehr dazu bereit waren, die Kohlen für einen aus dem Feuer zu holen. Und man musste ernüchtert zur Kenntnis nehmen, dass Handelspartner plötzlich keine Partner mehr waren, sondern einen massiv unter Druck setzten, ja zu erpressen versuchten. 

„Wandel durch Handel“ ist gescheitert

Als dann ein befreundetes Land von einem tyrannischen Herrscher brutal überfallen wurde, war man endgültig überfordert, schwankte zwischen Protestnoten, halbherzigen Unterstützungen für den angegriffenen Nachbarn und ebenso halbherzigen Boykottmaßnahmen gegen den Aggressor. Die Bereitschaft, ernsthaft Verantwortung zu übernehmen, wurde durch das Tragen von allerlei – teilweise auch durchaus berechtigten – Bedenken geschwächt.

Die vielbeschworene These vom „Wandel durch Handel“ hatte sich jedenfalls auf allen Ebenen als falsch erwiesen. Hinzu kam, dass sich jahrzehntelange Leistungs- und Elitenfeindlichkeit nun ebenso rächten wie die überbordende, alles hemmende Bürokratie, die sich fast überall etabliert hatte. Vor allem aber sorgte die ideologisch getriebene Verabsolutierung des Zeitgeistes dafür, dass jene Wertebande, die die Gesellschaft zusammenhielten – insbesondere die Familie – systematisch geschwächt worden waren, und so steuerte man sehenden Auges in die Desintegration. Diese begann mit der angesprochenen Erosion der gemeinsamen Werte, was immer mehr in eine Sinn- und Vertrauenskrise münden musste.

Viele Menschen in diesem Land begannen, sich eine eigene „Wahrheit“ zusammenzuzimmern, wodurch die Zweifel, ja die Ablehnung in Bezug auf Institutionen, Politik und Medien rapide wuchsen. In der Gesellschaft nahmen Misstrauen und Missgunst zu, während Solidarität und Caritas abnahmen. All das wiederum führte zu einer gesellschaftlichen Fragmentierung. Dieser Zerfall in immer mehr und auch immer radikalere Gruppen wiederum veränderte auch die Politik: Macht schien wichtiger zu sein als Moral. Es ging weniger darum, das Richtige zu sagen oder zu tun, sondern sich durchzusetzen, an der Macht zu bleiben. Kurz: Sicherheit, Wohlstand und Stabilität, und damit der gesellschaftliche Zusammenhalt, waren in Gefahr.

Eine unerfreuliche Wahl

Das Land, von dem hier die Rede ist, nennt man Abendland oder Europa. Und dieses Europa steht nun vor der Wahl: Wollen wir auf einen Schrecken ohne Ende oder ein Ende mit Schrecken zusteuern? Klingt nach einer unerfreulichen Wahl – ist es auch. Aber eine andere, angenehmere Alternative haben wir nicht mehr. Zu lange haben wir uns als Gesellschaft nicht aus unserer Komfortzone herausbewegt. Zu lange haben wir über unsere Verhältnisse gelebt. Zu lange haben wir warnende Zeichen der Zeit ignoriert und die beschwichtigenden Aussagen der Politik glauben wollen. Eine bequeme Passivität, für die wir jetzt den Preis zahlen müssen. Dieser Preis heißt, Courage zu zeigen, auch wenn es unbequem ist, auch wenn es Opfer verlangt. Ohne diese Courage wird es nicht gehen.

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In dieser prekären Situation sind wir als Europa gefordert, gelebte Werte zu zeigen, denn genau das ist Haltung. Nur wer Haltung zeigt, kann Vorbild sein. Nur, wer Vorbild ist, kann Orientierung geben. Nur, wo es Orientierung gibt, kann es Hoffnung geben. Wertebasierte Orientierung ist der einzige Weg zur Wiederentdeckung von Tugenden wie Leistungsbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein, Mut und Demut, um nur ein paar zu nennen. Und damit gesellschaftliche und europäische Resilienz zu entwickeln. Wenn unsere christlich-europäischen Werte nicht genau jetzt ein Revival erleben, dann werden die radikalen Kräfte weit links und weit rechts der Mitte das Schicksal des Abendlands in ihre Hände bekommen. Die Geschichte ist eine klare Warnung: Sie hat gezeigt, was uns dann erwartet.

Der europäische Vordenker und Gründervater Alcide De Gasperi hat gesagt: „Der Glaube gibt uns Halt; und der Optimismus ist eine konstruktive Kraft, wenn es darum geht, ein großes politisches und menschliches Ideal zu realisieren, wie es die europäische Einigung darstellt.“ Dieses große politische und menschliche Ideal, das europäische Märchen, kann auch ein Happy End haben. Es liegt an unserer Gesellschaft, an jeder und jedem Einzelnen.


Der Autor ist Prokurator des „St. Georgs-Ordens“.

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