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Geweiteter Horizont

Der Raum des Glaubens erschließt sich schrittweise: Vom Nischendasein in der evangelischen Gemeinschaft zum katholischen Priestertum. Von Pfarrer Hans Janssen
Foto: KNA | Am Anfang vieler Übertritte zur katholischen Kirche steht die intensive Beschäftigung mit der Schrift, die Türen zur Tradition öffnet.

Oft wird im Gedenkjahr der Reformation hervorgehoben, dass Luther keine Kirchenspaltung, keine neue Kirche wollte, sondern die Erneuerung der katholischen Kirche. Was bewegt dann einen evangelischen Pfarrer dazu, nach vielen Jahren Dienst in der evangelischen Kirche katholischer Priester zu werden? Als mein Entschluss bekannt geworden war, dass ich die evangelische Kirche verlasse, um katholischer Priester zu werden, fragte mich beim Abschied einer meiner damaligen Konfirmanden: „Warum sind Sie nicht von vornherein katholischer Priester geworden?“ – Diese Frage legt die richtige Fährte. Priester zu werden ist eben eine Frage der Berufung, und jede Berufung ist immer ein Weg, auf dem jeder von Gott auf seinem ganz eigenen Weg geführt wird. Da ist nichts nur die eigene Idee, auch nichts wirklich planbar, sondern jeder Schritt kann nur ein antwortendes Ja sein, nichts selbst Erdachtes. Nicht der Weg ist von vornherein bekannt, sondern der Herr, der auf dem Weg vorangeht.

Am Ende war es der Ausgleich eines Verlustes meiner reformatorischen Vorfahren: der Verlust eines gemeinsamen Kirchen- und damit auch Sakramentsverständnisses. Der Beschreibung der Kirche im lutherischen Augsburger Bekenntnis von 1530 als „congregatio“, in der „das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden“, habe ich lange Zeit auch deshalb geschätzt, weil ich diese Beschreibung so verstanden habe, dass Gott das handelnde Subjekt der Kirche ist. Der Mensch tut, was Gott sagt und verheißt, nämlich das Wort Gottes zu verkündigen, auf die Verheißungen zu vertrauen und danach zu handeln und die Sakramente schriftgemäß zu verwalten. Aber der entscheidend Handelnde ist Gott selbst. Wie ich heute einräumen muss, habe ich dabei allerdings die Frage des Lehramtes ausgeblendet, die Klärung dessen, wer also darauf achtet und dafür Verantwortung trägt, dass genau dies geschieht, dass das Evangelium rein verkündet und die Sakramente recht gefeiert werden. Die Herde braucht Schutz vor Willkür und Beliebigkeit. Dass der Hinweis auf das Predigtamt, wie ihn das Augsburgische Bekenntnis (CA 5) gibt, nicht tragfähig ist, zeigt nicht nur die Spaltungsgeschichte der evangelischen Kirchen und Gemeinschaften von Anfang an, sondern mehr noch die Vielzahl verschiedener, sich mehr oder wenig auch widersprechender Lehrmeinungen auch schon innerhalb der evangelischen Landeskirchen, zumal nach der Leuenberger Konkordie von 1973. Nun erfordert die „congregatio“ aber in allen wesentlichen Fragen Gemeinsamkeit, ja Einheit, und zwar eine Einheit, die nicht machbar ist, sondern nur in der Versöhnung des Evangeliums geschenkt werden kann. Die eine, heilige, katholische – also umfassende – und apostolische Kirche ist eben nicht einfach eine praktisch-soziale Notwendigkeit oder eine nachklappend notwendige Organisationsform glaubender Individuen, sondern sie ist Glaubensgegenstand, weil Geschöpf der Heiligen Geistes.

So einzigartig jeder einzelne Berufungs- und Glaubensweg auch ist, so gemeinsam ist allen Glaubenswegen, dass es nicht unsere Idee war, Christus zu folgen. Die Initiative geht immer von Gott aus, der uns ins Leben und in die Nachfolge gerufen hat. Aufgewachsen in Bremen bin ich in einem Elternhaus, in dem Glaube und Kirche eine deutlich nachgeordnete Rolle spielten. Ja, ich bin getauft und konfirmiert worden, aber es ging nichts über das äußerlich Notwendigste hinaus. Kein Kirchgang, auch nicht zu Weihnachten, kein Gebet, auch kein Tischgebet, wohl aber eine skeptische Distanz. Das fiel nicht weiter auf, war „normal“, eine übliche Haltung in Nachbarschaft und Schule, von wenigen, stillen Ausnahmen abgesehen.

Diese selbstverständliche Distanz habe ich in Frage gestellt, als mich Mitschüler im Gymnasium in den Jugendkreis einer evangelisch-lutherischen Gemeinde in der Nähe meiner Schule eingeladen hatten. Dort gab es mehrere Besonderheiten: Ich habe dort zwei Dinge völlig neu erfahren. In diesem Jugendkreis stand die Bibel im Mittelpunkt, und zwar nicht als ein Buch nur vergangener Geschichten, sondern als das Buch, durch das Gott zu uns heute spricht, ja das, was Christus für uns getan hat, lebendig vor Augen stellt. Mit dieser Haltung wurde die Heilige Schrift aufgeschlagen, gelesen, gehört. Die andere einfache, aber für mich damals neue Entdeckung: Das Gebet ist ein persönliches Gespräch mit Gott. Es war üblich, dass der erste thematische Teil des Jugendkreises dann in der Kirche mit einer Vesper abgeschlossen wurde, auch mit dem gesungenen Magnifikat, so wie es im evangelischen Gesangbuch steht. In die Vesper war allerdings eine freie Gebetsgemeinschaft an der Stelle der Fürbitten integriert. Von dieser Christusbeziehung wollte ich mehr erfahren und fing an, nun auch dort den Gottesdienst zu besuchen. Und es gab – für evangelische Verhältnisse – noch eine Besonderheit: Hier wurde an jedem Sonntag das heilige Abendmahl gefeiert.

Es hatte mir zwar niemand gesagt, aber aufgrund einer klaren Christusverkündigung und einer von dem Vertrauen auf die Realpräsenz Jesu Christi im Altarsakrament gefeierten Abendmahlsliturgie war mir klar: Wenn ich daran jetzt teilnehme, ist das ein Bekenntnis und ein Neuanfang im Glauben. Und so war es dann auch. Nach etlichen Wochen habe ich das erste Mal wieder das heilige Abendmahl empfangen und habe so Christus neu in mein Leben aufgenommen. Ich wurde nun in dieser Gemeinde heimisch, nahm regelmäßig am Gottesdienst und am Jugendkreis teil, bis es dann um die Frage ging, was nach dem Abitur sein sollte. Ein Theologiestudium? Ich bin meinem damaligen Pastor dankbar, dass er alle Studienüberlegungen in das Licht der Frage nach der Berufung gestellt hat. So habe ich mit dieser Offenheit im Hören auf Gott fragend und betend diesen Weg eingeschlagen.

Nach meinem Vikariat in Bremen wurde ich in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover Pfarrer einer Gemeinde, in der beide Vorgänger ein ausgeprägtes Sakraments- und auch Amtsverständnis hatten. Entsprechend war die Gemeinde geprägt, eine lebendig–zuhörende und die Liturgie bewusst feiernde Gemeinde. Hier wusste ich immer, und erfuhr es auch in den Diskussionen in der Pfarrkonferenz, dass ich zwar in der evangelischen Kirche als „Exot“ galt, konnte aber, im Gewissen gebunden an die Heilige Schrift, frei verkündigen und die Sakramente spenden.

Im Rückblick muss sich mir heute eingestehen, dass ich in meiner ersten Pfarrei in einer Nische gelebt habe, in der ich den Blick auf das Ganze der Kirche eher vermieden habe. Aber das Ausmaß, in dem sich die evangelische Kirche für mich nicht mehr erkennbar an der Heiligen Schrift orientierte, wurde mir umso mehr deutlich, als ich vor einem Pfarrstellenwechsel mit verschiedenen Gemeinden im Gespräch war. Immer wieder traf ich in Gesprächen es als üblich an, dass Traubensaft statt Wein beim Heiligen Abendmahl verwandt wurde, dass Jugendreferenten per Telefon mit der Einsetzung des Altarsakramentes bei Jugendfreizeiten beauftragt wurden, dass Kinder ohne weitere Vorbereitung zum Kinderabendmahl zugelassen wurden, zum Teil sogar, ohne dass sie getauft waren. Man könne sie doch nicht „einfach lieblos wegsegnen“ hieß es dann.

Nicht besser wurden meine Erfahrungen in den fünf Jahren meiner dann letzten evangelischen Gemeinde in Ostfriesland. Welche Bedeutung hat die evangelische Ordination noch, wenn Laienprediger des Ostfriesischen Gemeinschaftsverbandes in ihren Versammlungen Abendmahlsfeiern einsetzen, ja mit Zustimmung der evangelischen Kirche auch gültig taufen dürfen? Da mit der nicht gegebenen Ordination sich die Frage nach der inhaltlichen Bekenntnisbindung erübrigt, bleibt unklar, was da mit dem Abendmahl – zum Beispiel hinsichtlich der Realpräsenz – gefeiert und geglaubt wird.

Letztlich geht es um die Frage: Wohin laden wir ein, wenn wir zum Glauben an Jesus Christus einladen? Christus hat sich an die Kirche gebunden, und die ist zwar vielfältig in der Gestalt der Frömmigkeit, kann aber nicht beliebig sein in der Lehre. Wenn Kinder zur Taufe in die katholische Kirche gebraucht werden, ist eine der ersten Fragen: „Was begehrt ihr von der Kirche Gottes für euer Kind?“ Im Taufmanuale gibt es eine ganze Reihe von Antwortmöglichkeiten. Die meisten antworten: „Die Taufe.“ Möglich ist auch die Antwort: „Den Glauben.“ Der Glaube zumindest der Eltern und Paten ist eine Voraussetzung der Taufe. Mit dieser Antwort bringen die Eltern aber auch zum Ausdruck: Unser Glaube ist auf dieser Erde nie etwas ganz Fertiges. Ja, mehr noch: Ich bringe den Glauben nicht vollständig mit, wenn ich in die Gemeinschaft der Kirche eintrete, sondern ich wachse in die umfassende, also katholische Kirche hinein, mit allem, was auch vor mir gedacht und geglaubt worden ist. Ich werde auch getragen vom Gebet aller Heiligen. Wie der große Raum der Kirche, so der Raum des Glaubens, der sich uns erst nach und nach erschließt.

Was ich aus der evangelischen Kirche an Glauben mitgebracht habe, habe ich in der katholischen Kirche neu und gemeinsam geglaubt gefunden. Dazu gehört die verbindliche Anbindung an die Heiligen Schrift, mehr noch aber die Sakramente, die Liturgie und die Einbindung in das Ganze der lebendigen Tradition der Kirche. Sicher dazugewonnen habe ich die Weite und die Geborgenheit der irdischen und himmlischen Kirche „als eine einzige komplexe Wirklichkeit“ (vgl. Lumen Gentium 8). Mit allen Engeln und Heiligen feiern wir die heilige Eucharistie und werden gesammelt und gesandt durch Christus. Er ist das Haupt und auf ihn hin sind wir versammelt. Das weitet nicht nur räumlich unseren Horizont, sondern auch zeitlich, ja über die Zeit hinaus. Denn auch im Gebet sind wir nicht alleine, sondern immer in Gemeinschaft mit dem Himmel.




Hintergrund

Pfarrer Hans Janßen (geb. 1957) wurde 1985 zum Pastor der Bremischen Evangelischen Kirche ordiniert. Von 1988 an war er Pfarrer in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, die er im Jahr 2008 verließ, um zur katholischen Kirche überzutreten und sich im Priesterseminar Sankt Georgen (Frankfurt/M.) auf die Priesterweihe vorzubereiten. Im Jahr 2011 erlangte er an der dortigen Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen den akademischen Titel des Lizentiates in katholischer Dogmatik. Im März 2012 weihte der Hamburger Erzbischof Werner Thissen ihn im St. Mariendom zu Hamburg zum Diakon, im Mai 2012 empfing er die Priesterweihe. Seit Juni 2012 ist er Pastor der katholischen St. Vicelin Pfarrei zu Bad Oldesloe im Erzbistum Hamburg, seit Februar 2014 leitet er die Entwicklung des dortigen Pastoralen Raumes Stormarn-Lauenburg. Zum 1. November dieses Jahres hat Erzbischof Stefan Heße ihn zum Pfarrer der bereits errichteten Großpfarrei St. Katharina von Siena im Norden Hamburgs ernannt. Pfarrer Janßen ist seit 1984 verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern.

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