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Überlebenswichtig

Bindungsmangel in der frühen Kindheit führt zu einer ungesunden Gleichaltrigenorientierung.
Sabine Wüsten
Foto: privat | Sabine Wüsten (Mitte) kennt die Folgen fehlender Bindungserfahrungen.

Das Bedürfnis nach Bindung ist die Grundlage jeder menschlichen Entwicklung. Ein neugeborenes oder kleines Kind kann ohne Hilfe Erwachsener nicht überleben. Kinder verfügen daher über ein breites Repertoire, die nächsten Erwachsenen, also Mutter und Vater, in ihren „Bann“ zu ziehen, also zu „binden“. Das kindliche Gehirn enthält die Bereitschaft, mindestens eine feste, lebenslange Bindung zu entfalten, maximal aber kann sie sich auf drei Personen erstrecken. Dieses Bindungsprogramm erfordert eine Antwort, die unbedingt verlässlich, angemessen, feinfühlig und im Kleinkindalter prompt erfolgen muss.

Auf der Basis einer voll befriedigten Bindungserfahrung ist ein Menschenkind in der optimalen „pole position“, um sich selbst und seine Umwelt zu erkunden und den Herausforderungen seines einzigartigen Lebens mutig und vertrauensvoll entgegenzusehen.

Was aber finden Babys und Kinder in der derzeitigen Situation vor, die zumindest im Osten Deutschlands schon lange Tradition hat? Sie erleben zunächst eine Mutter, die mehrheitlich nicht verheiratet ist und, wie ich aus unserer Arbeit weiß, nur sehr selten selbst über sichere Bindungserfahrungen und -strukturen verfügt. In aller Regel wird der beginnende Bindungsprozess zur Mutter durch die Abgabe des Kindes in eine Einrichtung für viele Stunden des Tages im bindungssensiblen Alter von 12–15 Monaten unterbrochen. In dieser Zeit aber läuft das kindliche Bindungsprogramm weiter und es muss sich an mindestens eine Person binden, um das Überleben zu sichern. Dabei hat das Kind zusätzlich den unnatürlichen Abbruch der Primärbindung zu verkraften. Manche Kinder verlassen schon an dieser Stelle das Erfolgsprogramm und spalten sich innerlich ab (Trauma). Ihr Bindungsprogramm ist ohne Hilfe von außen außer Kraft gesetzt, solche Kinder kapseln sich ab und erscheinen Erzieherinnen unglücklicherweise als leicht führbar und unproblematisch angepasst. Anderen Kindern gelingt es, sich einigermaßen erfolgreich an eine Betreuungsperson zu binden. Voraussetzung dafür ist die zuverlässige Anwesenheit und Zuwendung dieser Person, was allerdings in der Realität nur sehr selten durchgängig möglich ist. Jede Abwesenheit dieser zweiten oder sogar schon dritten (Vater) Bindungsperson wird als Bindungsabbruch erlebt, mit dem oben genannten traumatischen Potenzial.

Spätestens mit drei Jahren findet in fast allen Einrichtungen ein geplanter Bindungsabbruch statt. Das Kind muss in eine neue Gruppe, zu neuen erwachsenen Bezugspersonen. Spätestens hier erlebt es, dass Bindungen zu erwachsenen Menschen nicht verlässlich, sondern zerstörerisch sind. Dem so absolut entscheidenden Bedürfnis nach Sicherheit, Zuverlässigkeit, Zuwendung und Gefühlsregulation wird eine endgültige Absage erteilt. Einer guten Stressregulation, Selbstwahrnehmung und einer erfolgreichen Selbststeuerung wird der Boden endgültig entzogen. Erwachsene und eigentlich kompetente Lebensbegleiter sind als nicht vertrauensbeständig erkannt. Misstrauen wird zum ständigen Begleiter.

Dennoch ist das Bindungsprogramm weiter auf Überlebenssuche eingerichtet. Sehr oft wird es dann in der Gruppe der Gleichaltrigen „fündig“: Kinder binden sich in ihrer Not an Kinder, denn diese sind stetige Begleiter durch die gemeinsamen Zeiten hindurch. Diese Bindungen sind aber alles andere als die benötigten bindungssatten, kompetenten und verantwortungsbereiten Strukturen liebender Mütter oder Väter. Im Gegenteil dazu erfahren Kinder in der Gleichaltrigenbindung eine Verstärkung ihrer unregulierten Gefühle, eine Desorientierung in Hinblick auf jede kulturelle Kompetenz, einen Mangel an Vorbild und liebender Anerkennung und erhöhten sozialen Stress. Sehr eindrücklich hat der kanadische Entwicklungspsychologe Gordon Neufeld dies in seinem Buch „Unsere Kinder brauchen uns“ beschrieben.

Nur vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, was wir heute unter Heranwachsenden erleben. Dazu ein kleines Beispiel einer sehr engagierten Chor- und Musical-Arbeit in unserer Kirchgemeinde. In den letzten Jahren wurden dort Kinder aus elterngebundenen, selbstbetreuenden Familien immer seltener. Gleichzeitig verstärkten sich in den Gruppen Phänomene, mit denen sich heute fast jede Bildungsarbeit konfrontiert sieht.

Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, in der Gruppe, für einen Sologesang oder eine kleine Aufgabe, sank erheblich. Obwohl die Kinder und Jugendlichen freiwillig und gerne kommen, ist die Freude und Lust am gemeinsamen Tun stark reduziert. Es ist so etwas wie eine kollektive Erschöpfung zu beobachten. Stattdessen finden plötzlich unerwartete gruppendynamische Prozesse statt wie gemeinsames Weinen oder Verlassen des Raumes unter völligem Interessensverlust am gemeinsamen Tun. Insbesondere Mädchen setzen sich mit Drohungen gegenseitig unter Druck, wenn sie von anderen erwarten, mit ihrem Gefühlschaos aufgefangen zu werden.

Es finden schwere Identitätskrisen, von selbstverletzendem Verhalten und Suizid bis hin zum radikalen und gruppenwirksamen Wechsel des Geschlechtes statt. Dabei ist die Gruppe die allein bedeutungsvolle und maßgebende Orientierung. Erwachsene haben nur dann eine Chance zur Intervention, wenn sie, wie zum Beispiel die Pädagogin, über Jahre hinweg ein starkes Vertrauensverhältnis aufbauen konnten. Bedauerlicherweise reagieren die eigentlich verantwortlichen Bindungspersonen, die Eltern, mit einem Anpassungsprozess an die unreife jugendliche Gruppendynamik und scheinen völlig hilflos dem Geschehen beizupflichten. Auch sie selbst haben in dem gestörten Bindungsprozess die Orientierung verloren. Der Ausweg ist so einfach wie provokant: Väter und Mütter müssen sich wieder von dem natürlichen Liebesprogramm ihrer Kinder anstecken lassen. Unsere Gesellschaft, das berühmte „Dorf“, muss endlich Eltern unterstützen, Vater- und Mutterschaft verantwortlich leben zu dürfen. Der Schöpfer hat uns das aufgetragen und uns durch seine eigene barmherzige Vaterschaft dazu befähigt.

Sie können gerne sofort selbst dazu beitragen, indem sie sich im Netzwerk www.familianer.de registrieren und Familien in Ihrem Umfeld unterstützen!

Von Sabine Wüsten


Zur Autorin:

Sabine Wüsten ist verheiratet, hat sechs Kinder und elf Enkel. Vor elf Jahren gründete sie die Initiative „Mütter für Mütter“ in Neubrandenburg und ist Vorsitzende im „Bündnis Rettet die Familie“. Im letzten Jahr erfolgte die Gründung der Internetplattform www.familianer.de, die einen wertvollen Beitrag zur Vernetzung und Stärkung bindungsorientierter Familien leistet.

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