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Erlebte Zeit - gemalte Zeit

Von den Erkenntnissen der Wissenschaften herausgefordert: Wie Rembrandt die Porträt-Kunst auf neue Grundlagen stellte.
Rembrandt gilt als einer der berühmtesten und meistdiskutierten Maler der europäischen Kunstgeschichte
Foto: N.N. | Rembrandt

Rembrandt gilt als einer der berühmtesten und meistdiskutierten Maler der europäischen Kunstgeschichte. Ganze Bibliotheken sind über seine Werke verfasst worden. Sein Leben ist durch emsigen Gelehrtenfleiß gut dokumentiert, sein Gesamtwerk wird nach wie vor intensiv erforscht, etwa im in den Niederlanden gegründeten Rembrandt Research Project, einem Zusammenschluss von Rembrandt-Experten.

Rembrandt ist also aktuell; wie sehr, zeigt sich an den teilweise kontroversen Diskussionen, die sich um die Genese seiner Werke ranken. Die Originalität Rembrandts mag heute vereinzelt in Zweifel gezogen werden, Einigkeit besteht auf jeden Fall darüber, dass er ein unverzichtbarer Bestandteil des westlichen kulturellen Gedächtnisses ist. Rembrandts Schwerpunkte liegen in der Historienmalerei und der Porträtkunst.

Werke sind auch religionsgeschichtlich bedeutsam

Nicht nur in kunstgeschichtlicher, sondern auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht sind seine Werke bedeutsam. Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich hat darauf hingewiesen, dass er seine Malerei an der Demarkationslinie religiös-konfessioneller Auffassungen schuf. Während in der südlichen Niederlande die Kunstauffassung des Katholizismus vorherrschte, wie sie etwa in der Darstellung von Heiligen und generell in kirchlichen Kunstwerken zum Ausdruck kam, schlug die nördliche Niederlande unter dem Einfluss des Calvinismus einen anderen Weg ein. Katholische Opulenz war den nüchternen Kaufleuten und Bürgern der nördlichen Provinzen zutiefst suspekt, Heiligenbilder galten als Blasphemie, weshalb sie unter dem protestantischen Kirchenregiment auch aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden. Diese Faktoren übten auf die Malerei einen nachhaltigen Einfluss aus; im Gegensatz zu einer inhaltlichen Orientierung auf das Jenseits konzentrierte sie sich nunmehr auf die alltägliche, konkrete Lebenswelt; anstelle der Heiligen traten „normale“ Menschen in ihrer Diesseitigkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit.

Diese Herausforderung wird in der hier anzuzeigenden Publikation von Claus Volkenandt in origineller Weise aufgenommen. Der ausgewiesene Kunstwissenschaftler und Rembrandt-Kenner widmet den Porträts eine eigene Studie, um den Leser in einen Dialog mit Rembrandt und seiner Kunst hineinzuziehen. Es sind die Nuancen der stilistischen Entwicklung der Rembrandt'schen Porträtkunst im kulturgeschichtlichen Spannungsfeld zwischen neuen Formen künstlerischer Visualisierung und der Individualität der Porträtierten, die ihn fasziniert. Rembrandt versteht es, in seinen Porträts Mikrokosmen individuell gelebter Zeit zu schaffen, die den Porträts ihre eigentümliche Dynamik und Spannung verleihen. Volkenandt verankert diese zunächst allgemein in den neuen Formen visueller Kultur, wie sie sich in den Niederlanden seit der Renaissance entwickelt hatte und die er als „Erweiterung des Sichtbaren“ beschreibt. Die Erfindung und Verbreitung des Teleskops, des Mikroskops sowie neue Entwicklungen in der Kartografie revolutionierten die Sichtweisen auf die Welt, die auch zu neuen Entwicklungen in der niederländischen Malerei führten. Ein größerer Detailrealismus und die präzise Darstellung menschlicher Affektlagen, wie sie etwa in Rembrandts frühen Selbstbildnissen zum Ausdruck kommen, belegen diese neue „Kultur der Sichtbarkeit“. Vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen überwindet Rembrandt in seinen Bildern eine bis dahin vorherrschende Starrheit insbesondere in der Darstellung von Menschen und experimentiert in seinen Werken mit Formelementen szenischer Darstellung und Andeutungen interpersoneller Dynamik. Volkenandt thematisiert diese Charakteristika des Rembrandt'schen Werkes in verschiedenen Untergattungen des Porträts, dem Selbstporträt sowie dem Ehe- und dem Gruppenporträt, denen er jeweils ausführliche Kapitel widmet.

Wesentliche Weiterentwicklung der Porträtkunst

In den zahlreichen Selbstporträts zeigte sich Rembrandt in verschiedenen Phasen seines künstlerischen Schaffens und schuf eine offene Maltechnik, die es ihm gestattete, seine Darstellung mit differenzierten Mitteln zu individualisieren. Auf diese Weise schuf Rembrandt einen komplexen Referenzrahmen, in dem er sich auch über sein Werk und die Möglichkeiten seiner Kunst Rechenschaft gab. In den Ehebildern porträtierte er Paare aus dem gehobenen Amsterdamer Bürgertum. Dabei präsentiert er sie nicht nur als Repräsentanten einer bestimmten sozialen Schicht. So finden sich nicht nur Hinweise auf gesellschaftliches und berufliches Umfeld, sondern auch auf ihr Verhältnis zueinander. Rembrandt erreicht dies durch eine szenisch anmutende Darstellung mit einer interpersonellen Dynamik. Dies geschieht einerseits durch Andeutungen von Bewegungsabläufen im Verlauf charakteristischer Tätigkeiten und andererseits durch ein komplexes Zusammenspiel von Gestik und Mimik, in dem sich unterschiedliche Zustände von Distanz und Vertrautheit manifestieren.

Es waren diese Qualitäten, die nicht nur als eine bedeutende Erweiterung der Porträtkunst gelten, sondern auch beim zeitgenössischen Publikum gut ankamen und Rembrandt – insbesondere im Zeitraum von 1630 bis 1634 – zu einem der gefragtesten und wohlhabendsten Künstler der Niederlande werden ließen. In einem größeren Maßstab gelingt Rembrandt dies in seinen Gruppenbildern, in denen er verschiedene Gilden darstellt wie etwa Soldaten und Schützen („Die Nachtwache“) oder Ärzte („Die Anatomie des Dr. Tulp“). Das Gruppenporträt gehörte zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu den populärsten Formen der Porträtmalerei. Wie Volkenandt zeigt, hatte es eine doppelte Funktion: eine Ansammlung von Menschen im Bild als eine zusammengehörige soziale Gruppe zu konstituieren und die Individualität ihrer Mitglieder sichtbar werden zu lassen. Rembrandt führt beide Funktionen souverän zusammen. So inszeniert er in der „Anatomie des Dr. Tulp“ das medizinische Geschehen als gruppendynamischen Prozess und lässt durch die Individualisierung der Beteiligten in Mimik und Gestik die anatomisch-medizinischen Aneignung des Geschehens als wissenschaftlichen Erkenntnisprozess sichtbar werden. Diese bewusst dargebotene Zeitlichkeit des Geschehens hebt dieses Bild von vergleichbaren Gruppenporträts der Zeit ab und etabliert Rembrandt als Künstler, der existierende Formen um weitere Dimensionen bereichert.

Die Zeitlichkeit, die Rembrandt in seinen Individual- und Eheporträts nuanciert andeutet und in den Gruppenporträts weiterentwickelt, erfährt ihre volle Entfaltung in den Altersporträts. Rembrandt nimmt hier seine Erfahrungen aus seinen Selbstbildnissen wieder auf, um die Spuren von Lebenszeit in den dargestellten Personen sichtbar werden zu lassen. In den Gesichtszügen der Porträtierten, in Andeutungen von Gebrechen und körperlicher Hinfälligkeit, in Gesichtszügen von Schmerz oder Altersmilde werden in kumulativer bildlicher Vergegenwärtigung die Spuren gelebter (und verlebter) Zeit sichtbar und dem Betrachter zugänglich gemacht.

Volkenandt ist ein ansprechendes Werk gelungen, das für Kunsthistoriker und interessierte Laien von Interesse sein dürfte. Mit geistiger Leidenschaft führt er den Leser durch das Thema, vermittelt die großen Linien wie die markanten Details.

Claus Volkenandt: Rembrandt. Die Porträts, wbg Theiss, Darmstadt 2019, ISBN 978-3-8062-3957-7, 160 Seiten, EUR 40,–

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