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„Der Glaube ist mein Elixier“:

Die Psychotherapeutin und Schriftstellerin Christa Meves im Gespräch über Politik, entfesselte Maßlosigkeit und ihren Glauben. Von Martin Lohmann
Foto: Lohmann | „Ohne erzieherische Orientierung gerät der Mensch leicht in falsche Gewohnheiten, die aus den meist unbekannten Defiziten seiner seelischen natürlichen Urbedürfnisse entstanden sind“, so Christa Meves.
Frau Meves, Sie sind mehr als 90 Jahre alt und blicken als praktisch arbeitende Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeutin seit vielen Jahrzehnten mit wachem Auge und sensiblem Herzen in unsere Gesellschaft. Bereits in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts haben Sie vor Fehlentwicklungen gewarnt. Dafür wurden Sie zwar in manchen Mainstream-Medien beschimpft, doch leider hatten Sie vielfach Recht. Wenn Sie heute zurückblicken: Was bewegt Sie dann am meisten?

Dass sich aus dieser Gegebenheit keine Trendwende durch ein Lernen an der Erfahrung ergibt. Wir haben von der Mitte der 60er Jahre ab im damaligen gesellschaftlichen Klima einen Umbruch erfahren, der die Kernbereiche unseres Lebens mit einer revolutionären Stoßkraft auf den Kopf stellte. Dabei wuchs sich der damals neu hochbrandende links-liberale Gusto zunächst nach einem revolutionären Fanal weiter unterschwellig aus, doch im neuen Jahrhundert kam er auch in der Regierung zur Manifestation. Dieser Trend ist im Hinblick auf die Kindererziehung schädigend. Das hatte sich durch die vergangenen Jahrzehnte hindurch längst ergeben, unbeeinträchtigt davon, dass ich ab 1969 mit Büchern und zahllosen Vorträgen in übervollen Sälen unablässig warnte und Prognosen stellte, die mittlerweile eingetreten sind. Das ist für mich ebenso erschreckend, aber dennoch nicht ohne Hoffnung; denn die Bevölkerung beginnt nun immerhin, sich ahnungsvoll dagegen zu wehren.

Auch heute schauen Sie wach und besorgt in unsere Gesellschaft. Sie sagten mir neulich, dass Sie viel Verwirrung, Unglück und auch Hass gegen „die da oben“ beobachten. Was sind Ihre größten Sorgen?

Sie bestehen darin, dass im MainstreamJournalismus der unbekömmliche ideologische Trend aber noch vorherrscht, mit der Tendenz, dass sogar mit Nachdruck neue wissenschaftliche Fakten, die der Ideologisierung eine Grenze setzen, ja, sie sogar direkt widerlegen, nur unzureichend verbreitet werden.

Aber sicher entdecken Sie auch Gutes und Aufbauendes. Was macht Ihnen Mut?

Nicht nur das jüngste Wahlergebnis in Deutschland lässt sichtbar werden, dass auf die vorherrschende Meinungsdiktatur in vielen europäischen Ländern sowie auch in den Vereinigten Staaten von der Bevölkerung neuerdings mit Misstrauen, ja mit wachsendem Unmut geantwortet wird.

Kann man sagen, dass Sie eine Cassandra waren und sind, die vor allem warnt?

Nein, gewiss nicht „vor allem“. Die zentralen Veränderungen in diesem Trend bestanden ab 1969 in einem Programm mit drei Stoßrichtungen: Es war das Ziel, erstens die herkömmliche Familienstruktur als „veraltet“ aufzulösen, zweitens jegliche Autoritäten zu minimieren (siehe antiautoritäre Erziehung) und drittens die sogenannte „Befreiung zur Sexualität“ als ein absolut-gesetztes Programm durchzusetzen.

Kinder, die in ihrem Umfeld mit diesen Trends aufwachsen, entwickeln meistens bereits im Schulalter psychische Auffälligkeiten – vorab eine diffuse Unruhe. Oft werden mit der Pubertät psychische Störungen sichtbar. Diese machen es viel zu vielen im Erwachsenenalter immer schwerer, selbst den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und zu verträglicher Gemeinschaft fähig zu werden. Millionenfach sind mittlerweile dadurch bereits schwere seelische Beeinträchtigungen entstanden, die der therapeutischen Behandlung bedürfen, in einem Ausmaß, wie es in der Vergangenheit noch niemals der Fall war.

Sie leben aus einem starken Glauben. Der Glaube an Christus lädt uns ja auch immer wieder ein, unser ganzes Vertrauen auf den Herrn zu richten. Ist das aus heutiger Sicht naiv?

Davon kann nicht die Rede sein; denn als letzte Ursache dieser gesellschaftlichen Fehlentwicklung steht die leichtfertige Vorstellung, für die Lebensgestaltung ein Hinauf-hören zu einem allmächtigen Gott nicht mehr zu brauchen. Es hat sich immer mehr die Vorstellung verbreitet, dass jeder Mensch die absolute Freiheit habe, sein Leben allein nach der eigenen Maßgabe einzurichten. Dabei missachtet der Mensch aber die Gegebenheit, dass wir als biologische Lebewesen in die Naturordnungen Gottes eingebunden sind und dass es uns grundsätzlich übel geht, wenn wir diese Grenzen nicht einhalten. Bei der Umweltverschmutzung geht uns das jetzt schon ein wenig auf. Aber das betrifft auch die Ökologie des Menschen selbst. Deshalb gibt es so viele Scheidungen, deshalb gibt es so viele Kinder, die dem Schulunterricht nicht mehr konzentriert folgen können.

Wie kommt es, dass Sie zunehmend abgelehnt und auch offenbar falsch verstanden werden, wenn Ihr Name auftaucht? Sie haben doch einen so hohen Bucherfolg eingefahren. Sie waren in beachtlichen Gremien eingeladenes Mitglied. Hat das etwas mit Ihrem Einspruch im Blick auf einen aus Ihrer Sicht häufig verantwortungslosen Umgang mit der Sexualität zu tun? Kommen Sie da den Menschen vielleicht zu nahe?

Das sind zwei Fragen. Sie betreffen zwei grundsätzliche Felder des gesellschaftlichen Lebens. Erstens: Die mehr oder weniger einhellige Ablehnung einer vorrangigen Mutterschaft in den ersten Lebensjahren des Kindes ist der Hauptgrund für die Anlehnung meiner Lehre. Mutterschaft ist zu einem Unwort geworden. Wer sie für einen unaufgebbaren Wert hält und danach etwa selbst zu leben wagt, fällt dadurch grundsätzlich der Ablehnung und gesellschaftlicher Ächtung anheim.

Und nun zur zweiten Frage: Sex um der Lust allein ist grundsätzlich zukunftsfeindlich und bewirkt im Verhütungszeitalter langfristig Wohlstandsminderung durch Kinderschwund. Davor habe ich sofort aufgrund dieser Gefahr gewarnt. Das stieß von Anfang an auf taube Ohren. „Die will uns unseren Sex nehmen“, schrie mir damals im Kongress-Zentrum Berlin vor meinem Vortrag eine das Podium stürmende entblößte Chaotengruppe zu. Auf diesem Boden ist aber mittlerweile eine Gesellschaft von Missbrauchstätern und elend traumatisierten sexuell Missbrauchten entstanden – bis hin zu einer zweiten Beeinträchtigung seelischer Gesundheit: Die Ablehnung der wissenschaftlichen Gegebenheit, dass es eine generelle Realität zweigeschlechtlicher Elternschaft gibt, hat das Absurdum der Gender-Ideologie ermöglicht, die die Vorstellung enthält, sogar das Geschlecht willkürlich verändern zu können. Dass dergleichen unrealistische Vorstellungen in unseren Ländern zu Erziehungsprogrammen in den Schulen zu werden vermag, liegt an einer gruppendynamischen Grundgegebenheit des Menschen: Einhellige Zustimmung vieler Menschen – besonders für anscheinend fortschrittlich Neues lässt unnachdenklich das Bedürfnis entstehen, sich dem „Rudel“ anzuschließen; denn unbewusst fühlt man sich dadurch sicherer und geborgener. Diese Psychologie der Massen hat uns der große Forscher Gustave le Bon bereits vor 90 Jahren angeliefert. Ein solcher unbewusster gewissermaßen instinktiver Hang gehört zur Biologie des Menschen. Unter mächtigen, öffentlichen Zeittrends verlieren die Menschen deshalb grundsätzlich zunehmend mehr das Bedürfnis und damit die Möglichkeit für individuelle Begabungsentfaltungen.

Aber es gibt doch mehr als „nur“ dieses Problem. Oder beobachten Sie insgesamt eine entfesselte Maßlosigkeit?

Die Maßlosigkeit ist nicht Ursache, sondern die Folge der überheblichen Fehlvorstellung, ohne jegliche Einschränkungen absolut frei sein zu können. Ohne erzieherische Orientierung gerät der Mensch leicht in falsche Gewohnheiten, die aus den meist unbekannten Defiziten seiner seelischen natürlichen Urbedürfnisse entstanden sind. Dadurch ergibt sich nicht selten eine Maßlosigkeit etwa im Alkohol-trinken, etwa in der Einnahme von Rauschgift, etwa in der Betätigung sexueller Selbstbefriedigungen, etwa im Klammern an PC und Smartphone. Dadurch ist heute bereits eine süchtige Gesellschaft vielfältigen Ausmaßes entstanden. Sie lässt infolgedessen im Einzelnen Höllenqualen entstehen, weil gerade die gesuchte Freiheit nicht gefunden wird und eingeengte Unabhängigkeit vom Suchtmittel das Leben zu durchsetzen beginnt. Seelische Qualen beginnen zu schrecken, wenn der Mensch erst einmal voll Entsetzen entdeckt, dass ihm die Kraft zur Rückkehr aus dieser seelischen Gefangenschaft abhanden gekommen ist.

Was bedeuten die von Ihnen markierten Fehlentwicklungen für den Gesundheitszustand und die Überlebenskraft unserer Gesellschaft?

Es ist klar, dass auf diese Weise nicht nur die Gesundheitsinstitutionen überlastet werden, sondern dass dann auch immer weniger Familien gebildet und immer weniger Kinder geboren werden.

Hat die Politik in wichtigen Feldern schlichtweg versagt? Was ist aus einer früher einmal postulierten Politik aus christlicher Verantwortung geworden?

Ja, die Politik hat auf diesem Feld versagt. Sie hat sich durch die vergangenen Jahrzehnte hindurch der einhellig links-liberalen Diktatur der öffentlichen Mainstream-Medien gebeugt und ist auch von dieser durchsetzt worden, ohne den eigentlichen Nöten, in die die Bevölkerung geriet, auch nur andeutungsweise hinreichend Beachtung zu schenken. Das kam nach der Bundestagswahl in den Talkshows durch eine allgemeinen Ratlosigkeit der Moderatoren und ihrer Gäste gegenüber den Erfolgen der neu erwachsenen Protestpartei zum Ausdruck.

Gestatten Sie mir, noch einmal auf Ihren Glauben zu sprechen zu kommen. Wissen Sie sich – gerade als alter Mensch – da sicher und geborgen?

Ja, absolut. Der Glaube ist mein entscheidendes Elixier, um den Mut zum Leben trotz aller Altersbeschwernisse und allem Leiden am Leiden unschuldiger Menschen nicht zu verlieren.

Welche Rolle spielt dabei denn die römisch-katholische Kirche, für die Sie sich vor drei Jahrzehnten bewusst entschieden haben?

Dazu waren drei Erfahrungen von entscheidender Bedeutung, die ich durch die Teilnahme an katholischen Messen bei meinen Vorträgen gewonnen hatte: Die Unmittelbarkeit der Nähe zum Herrn mithilfe der Eucharistie, diese Vorstellung als erstes, als zweites, die so berechtigte starke Beachtung der Gottesmutter; denn eine gezielte Beachtung der Maria aufgrund der biblischen Aussagen über sie ist auch ein Schlüssel zur Sanierung der verführten Frau heute.

Als drittes gewann ich durch meine berufliche Arbeit die Erkenntnis, dass wir Menschen eines Orientierung-gebenden irdischen Stellvertreters des Herrn in Gestalt des Petrus-Amts bedürfen, um dem in sich schwachen Menschen zu geistiger Ausrichtung und Glaubensstärke zu verhelfen. Diese drei Gegebenheiten waren im evangelisch-lutherischen Glaubenstrend durch eine mehr oder weniger starke Anpassung an den Zeitgeist verloren gegangen.

Sie haben nach wie vor viel mit jungen Menschen zu tun. Was raten Sie jüngeren Menschen, die oft ihre Sehnsucht nach einem gelingenden Leben nicht erfüllt sehen und – auch über Umwege – danach suchen, froh und glücklich zu leben?

Sich Gemeinschaften anzuschließen, in denen der Glaube lebendig gelebt wird, und die gibt es hierzulande auch bereits in erheblichen Zahlen.

Was macht denn Glück letztlich aus? Wie wird man belastbar glücklich?

Dazu bedarf es vor allen Dingen einer hirnmäßig eingeprägten Grundlage in den ersten drei Lebensjahren. Das Gefühl von angstloser Geborgenheit, von Halt und liebevoller Verlässlichkeit wird – so wissen wir heute – wie eine feste Grundlage in unser Stammhirn durch Erfahrungen des Säuglings und Kleinkinds mit den Personen seines Umfelds eingeprägt. Diese Naturbasis ist unverzichtbar, um mit der hinreichenden Widerstandskraft den Stürmen des Lebens gewachsen zu sein. Das wird von unserer Politik geradezu hintertrieben statt gefördert.

Worauf kommt es heute für jeden von uns, aber auch für die Kirche und die Politik an?

Dass jedem Menschen das Naturrecht seiner Menschenwürde und damit der gegenseitigen Achtung voreinander Raum gegeben wird; denn nur dann kann der Mensch ein seelisches Selbstwertgefühl entwickeln, das zur Erhaltung seiner Lebenskraft unabdingbar ist.

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25.04.2024, 11 Uhr
Regina Einig