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Was vom „C“ übrig bleibt

Angela Merkel hat die Union religiös entkernt: Warum eine gläubige Verehrung der Bundeskanzlerin völlig unangemessen ist. Von Wolfgang Ockenfels
Die Bundeskanzlerin Angela Merkel in Aktion
Foto: dpa | „Das Stärkste, was man gegen sie kritisch ins Feld führen kann, sind ihre eigenen Worte.“ Die Bundeskanzlerin in Aktion.

Angela Merkel ist nicht identisch mit der CDU, aber sie hat sich die Partei weithin untertan gemacht. Als die „Volkspartei der Mitte“, wie sie sich in ihrem Grundsatzprogramm nennt, war die CDU nie mit der alten, katholisch dominierten Zentrumspartei identisch, sondern wollte nach dem Zweiten Weltkrieg die christlichen Konfessionen übergreifen, zusammenführen und damit politisch stärken. Aber diese Substanz schwindet. Wie seit längerer Zeit mit christlichen, katholischen Traditionsbeständen aufgeräumt wird, hätten sich die Gründer der CDU nicht vorstellen können. Unter der Parteivorsitzenden Merkel, die eine „modernisierte Union“ anstrebt, die sich am Lebensgefühl der urbanen akademischen Schichten orientiert und für neue Gruppen und Minderheiten öffnet, hat sich dieser Prozess beschleunigt und verstärkt. Der katholische Wähler war einst im Westen das Rückgrat der Partei, doch fühlt er sich zunehmend wie Ballast behandelt. Zu viel Rücksicht auf seine Werte oder Orientierung an ihnen würde andere, „moderne“ großstädtische Milieus davon abhalten, die Union zu wählen, so sagen die Unions-Strategen, Demoskopen und Einflüsterer um Merkel. Allerdings ist es der Merkel-CDU trotz intensiver Modernisierungsbemühungen nicht gelungen, in den Großstädten sehr viel mehr moderne oder gar postmoderne Wähler zu gewinnen. Die Bewegung der CDU in die Mitte und auch linke Mitte hat dagegen wertkonservative Stammwähler rat- und heimatlos zurückgelassen.

Die Auszehrung christlicher Substanz in der CDU-Programmatik ist ein schleichender Prozess, der nicht erst mit der Vorsitzenden Angela Merkel begonnen hat. Die Partei entfremdet sich seit Jahrzehnten von ihrer eigenen Tradition und verliert oder verwässert damit ihre C-Identität. Was vom „C“ übrig bleibt, ist der schwache Aufguss dessen, was man „christliches Menschenbild“ nennt. Das sind rhetorische Beschwörungen hehrer „Werte“ wie Menschenwürde, Ehe und Familie. Deren (natur)rechtlich-institutionelle Bedeutung wird aber weithin verkannt. So folgte im Regierungsprogramm der Union aus der „ungeteilten Menschenwürde“, die auch den Ungeborenen zukommt, nicht etwa die rechtliche Konsequenz eines verstärkten Lebensschutzes. Unter dem strengen Regiment der Vorsitzenden Merkel ist die Freiheit der innerparteilichen Diskussion schon nach dem schlechten Wahlergebnis von 2005 stark eingeengt worden. Zeitgeistbeflissenheit beherrscht das Feld und verdrängt die nüchterne Ursachenanalyse wie auch die Erfahrungen der Wertkonservativen. Diese finden aber immer noch Anklang bei der Jungen Union, in der wachsenden Senioren-Union sowie beim Mittelstand. Und die Christdemokraten für das Leben (CDL) sorgen sich um das Lebensrecht von Ungeborenen und Alten; sie wehren sich gegen ein „Recht“ auf Abtreibung und Euthanasie. Hingegen sind die einstmals von der Katholischen Soziallehre geprägten Sozialausschüsse, also der früher von Hans Katzer und Norbert Blüm repräsentierte „linke Flügel“ der Partei, völlig abgetaucht, so als gäbe es keine „sozialen Fragen“ mehr, die im Zusammenhang mit den vielfältig aufgestauten Krisen in Europa und der Welt zu lösen wären.

Wie stark hat sich die Union seit Helmut Kohl verändert. Als Kanzler war Kohl vielleicht einer der letzten Vertreter des politischen und vor allem sozialen Katholizismus. Dies freilich auf eine eher liberale Weise, die man rheinisch-katholisch nennen kann. Die „geistig-moralische Wende“, wie es 1982 hieß, schaffte er freilich nicht, und, es war auch nicht seines Amtes, eine solche durchzusetzen. Bei der europäischen Einigung hingegen sorgte Kohl für die vertragliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, das sich als kritisches Prinzip gegen den (sozialistischen) Zentralismus behaupten sollte. Das war freilich zu optimistisch gedacht – wie auch seine Vorstellungen zum rechtlichen Lebensschutz und zum Schutz der Familie sich nicht durchsetzen konnten. Aber immerhin: Er hatte hier dezidierte Ansichten, die er auch gegen den Zeitgeist vertrat. Wohin Angela Merkel die CDU künftig noch steuern will, bleibt ein Rätsel. Ihr Kurs hat bisher stark geschlingert, eine klare wertkonservative und ordnungspolitische Linie war kaum zu erkennen. „Modernisierung“ ist das programmatisch universale Schlagwort, mit dem sich jede Kritik niedermachen lässt. „Neugierig, offen, tolerant und spannend“ möge ihr Land in 25 Jahren sein, sagte die Parteivorsitzende auf dem Karlsruher CDU-Parteitag im Dezember 2015, also kurz nach der Grenzöffnung für die massenhafte Einwanderung, die sie inzwischen ein wenig bedauert, aber nicht wieder rückgängig machen kann. Eher ist zu befürchten, dass die unkontrollierte Migration vorwiegend aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika in den nächsten Jahren weitergeht und kumuliert zur Völkerwanderung wird, etwa wenn der Familiennachzug beginnt. „Neugierig“ wie wir sind, wüssten wir gerne etwas mehr über die Zukunft. Ob etwa die Deutschen, „diejenigen, die schon länger hier leben“ (Merkel), auf Dauer noch „offen“ genug sind, jeden, der sich als Flüchtling ausgibt, willkommen zu heißen. Und „tolerant“ genug, auch jeden islamischen Scharia-Anhänger gewähren zu lassen; das wäre dann gewiss „spannend“, was aus Deutschland würde. Der Fehler, den Frau Merkel mit ihrer „Papst-Schelte“ begangen hat, die ihr viele Katholiken damals sehr übel nahmen, ist nicht unverzeihlich, sondern resultierte aus der Schwäche des Opportunismus. Man wird sich noch lange an jenen denkwürdigen 24. Januar 2009 erinnern. Das war der Tag, an dem Benedikt XVI. das Dekret zur Aufhebung der Exkommunikation jener vier Bischöfe veröffentlichen ließ, die von dem französischen Erzbischof Lefebvre unerlaubt geweiht worden waren.

Dieser wichtige Schritt zur Versöhnung und Heimholung der „Bruderschaft St. Pius X.“ wurde dadurch diskreditiert, dass sich unter den Bischöfen ein Holocaust-Relativierer namens Richard Williamson befand. Der Brite Williamson hatte – Monate zuvor – in einem Interview mit dem schwedischen Fernsehen AB-SVT 1 seine verrückten Äußerungen getan. Wie auf Kommando skandierten sie „Papst rehabilitiert Holocaust-Leugner“. An dieser Insinuation hatte sich leider gerade auch Angela Merkel beteiligt. Schauplatz war eine Pressekonferenz am 3. Februar 2009 gemeinsam mit dem Präsidenten von Kasachstan Nursultan Nasarbajew, der gerade zu Besuch in Berlin war. Ausgerechnet neben diesem als korrupt geltenden Diktator stehend, sagte sie auf eine Journalistenfrage folgende Worte in Richtung Rom: „Es geht hier darum, dass von Seiten des Papstes und des Vatikans sehr eindeutig klargestellt wird, dass es hier keine Leugnung (des Holocausts) geben kann und dass es einen positiven Umgang natürlich mit dem Judentum insgesamt geben muss. Diese Klarstellungen sind aus meiner Sicht noch nicht ausreichend erfolgt.“

Diese in der Geschichte der CDU und der deutschen Bundeskanzler einmalige Rüge in Richtung eines Papstes verdient es, in eine Sammlung scheinheiliger Unterstellungen aufgenommen zu werden. Sie beleidigte Ratzinger, dessen Freundschaft zum Judentum und dessen Abscheu vor dem Holocaust über allen Zweifel erhaben ist. Drei Jahre vor der Merkel-Rüge hatte Ratzinger 2006 Auschwitz besucht und seine tiefe Erschütterung über den Holocaust bekundet („Warum hast Du (Gott) geschwiegen?“). Einige der wichtigsten Repräsentanten des Judentums haben den Papst angesichts der gehässigen Angriffe nach der Williamson-Affäre in Schutz genommen.

Mit der im Herbst 2015 emotional propagierten, überschwänglich demonstrierten „Willkommenskultur“ begann Angela Merkel ein „Spiel ohne Grenzen“, das bald über den Kopf gewachsen ist. Zunächst tat sie so, als könnte diese Willkommenskultur bei einer Million Flüchtlingen für die nächsten Jahre beibehalten und zur neuen „Leitkultur“ werden. Aber die Zahl und die kulturell-religiöse Prägung der Flüchtlinge und Migranten, vor allem gering qualifizierte Muslime aus dem Nahen und Mittleren Osten, erreichen einen ökonomischen wie kulturellen und damit auch politischen Grenzwert. Die Beschwörungsformel der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“ ist hier „wenig hilfreich“, denn ihre Anstrengung, ein „freundliches Gesicht“ zu zeigen, könnte nach der nächsten Wahl zur Grimasse erstarren. Soziale Konflikte und Unruhen drohen, wie uns die Geschichte vieler Einwanderungsländer mit ihren „multikulturellen“ Gesellschaften lehrt. Auf die Unterscheidung von Max Weber zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik werden wir nun häufiger verwiesen. Christlich ist es nicht, Forderungen zu erheben, die andere begleichen müssen. Der Staat ist an eine rechtlich-rationale Verantwortungs- und Institutionenethik gebunden, hat Ursachen und Folgen abzuwägen und rechtlich erzwingbare Entscheidungen demokratisch zu fällen. Er möge sich dabei an das klassische Völkerrecht erinnern, das noch ein Recht auf Heimat vorsah. Den Millionen Armutsflüchtlingen sollte man das Verbleiben in ihrer Heimat schmackhaft machen, durch bessere, wirksame Entwicklungshilfe.

Spätestens mit dem Kölner Silvesterereignis 2015/16 gab es eine Wende in der Flüchtlingspolitik der CDU-geführten Bundesregierung. Von einer tiefgreifenden Zäsur kann aber noch keine Rede sein. Das makabre Ereignis massenhafter sexueller Übergriffe auf der Kölner Domplatte, an denen viele sogenannte Flüchtlinge beteiligt waren, hat sich auch dank der hellen Beleuchtung, die das Kölner Domkapitel den arabisch-nordafrikanischen Straftätern gewährte, tief in das Problembewusstsein der Deutschen eingegraben. Seit dem Kölner Ereignis werden immer mehr Rechtsbrüche und Gewalttaten bekannt. Wenn die Integration von einer Million Muslime, die mit dem jüngsten Flüchtlingsstrom kamen, misslingt, dann drohen Konflikte und soziale Brandherde, wie man sie aus den französischen Vorstädten kennt.

Dass allen Menschen eine Menschenwürde zukommt, ist nicht nur für Christen selbstverständlich. Daraus ein Einwanderungsrecht für alle Notleidenden der Welt abzuleiten, ist Unsinn. Nicht der Staat ist der barmherzige Samariter, sondern die kirchliche Caritas, die auch die Kosten übernehmen sollte. Und die biblische Flucht der Heiligen Familie betraf nicht Millionen, sondern drei verfolgte Personen. Zur Flüchtlingspolitik von Angela Merkel gibt es durchaus Alternativen, was die übrigen europäischen Staaten beweisen. Ohne die Verantwortung auf eine Türkei abzuwälzen und sich von ihr abhängig zu machen, die ihre eigenen imperial-islamischen Interessen vertritt. Im Frühjahr 2017 entlarvt sich die türkische Politik immer stärker selbst. Nachdem Wahlkampfauftritte türkischer Minister in einigen europäischen Ländern verboten wurden, gifteten sie über angebliche „Nazi-Methoden“, und der Außenminister warnte, es werde „bald Religionskriege in Europa geben“. Von Merkel waren eher lauwarme Zurückweisungen dieser ungeheuerlichen Vorwürfe zu hören. Präsident Erdogan nannte die EU dann sogar noch eine „Kreuzritter-Allianz“. Ausgerechnet jene EU, die sich in ihrem – gescheiterten – Verfassungsvertrag und im Lissabon-Vertrag davor drückte, das Christentum als prägende religiöse Wurzel des Kontinent überhaupt namentlich zu nennen. Stattdessen übt man sich in „Toleranz“ und gemeindet den Islam ein. Auch Merkel hat den Wulffschen Satz wiederholt, „der“ Islam gehöre „zu Deutschland“. Zugleich beteuert sie, dass der Islam gar nichts mit dem Islamismus und Terrorismus zu tun habe, der sich in Europa und der übrigen Welt immer grausamer austobt. „Der Glaube kann Berge versetzen“ verkündete Angela Merkel in einem Fernsehgespräch mit Anne Will, in dem sie ihre Flüchtlingspolitik verteidigte. Mir fehlt jedoch der Glaube, mit dem ich die Botschaft des Evangeliums sonst gerne höre. Sobald sie politische Machtansprüche betrifft, werde ich misstrauisch. Denn die Problemberge, die sich die Bundeskanzlerin aufgehalst hat, lassen sich nimmermehr quasireligiös abtragen beziehungsweise europäisch oder sonstwie „umverteilen“.

In manchen äußerst schwierigen Situationen hilft nur noch beten. Aber Wunder in der Politik sind äußerst selten. Im Unterschied zu Jürgen Habermas ist Angela Merkel „religiös musikalisch“. Dabei bedient sie sich nicht einer komplexen Klaviatur, sondern der einfachen Blockflöte. Die Blockflöte hat Frau Merkel auf dem Landesparteitag der CDU in Mecklenburg-Vorpommern im Oktober 2016 allen Ernstes und mit unfreiwilliger Komik als ein geeignetes Instrument gegen Sorgen vor dem Islam und vor Heimatverlust angepriesen: „Wir sind die Partei mit dem C im Namen“, sagte Merkel. „Haben wir eigentlich noch Selbstbewusstsein? Man muss ja nun wirklich nicht irgendwo hingehen von AfD bis Pegida, um Weihnachtslieder, christliche, singen zu dürfen. Aber wie viele von uns tun denn das noch auf ihren Weihnachtsfeiern in den Kreisverbänden? Und wo läuft da irgendwo so?n Tamtamtam und ,Schneeglöckchen weiß Röckchen‘ oder was weiß ich, na ja, es ist auch, nein, aber ich meine, wie viel christliche Weihnachtslieder kennen wir denn noch? Und wieviel bringen wir denn noch unseren Kindern und Enkeln bei? Und dann muss man eben mal n? paar Liederzettel kopieren und einen, der noch Blockflöte spielen kann oder so, mal bitten – ja ich meine das ganz ehrlich, sonst geht uns ein Stück Heimat verloren.“ Kommentar überflüssig.

Das Stärkste, was man gegen sie kritisch ins Feld führen kann, sind ihre eigenen Worte. Die gläubige Verehrung für Angela Merkel, die in großen Teilen der CDU immer noch frenetisch beklatscht wird, ist völlig unangemessen. Etwas mehr Zivilcourage könnte auch Christen in der CDU auszeichnen.

Der Autor lehrte christliche Sozialethik an der Universität Trier. Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Version eines Beitrags aus dem von Philip Plickert herausgegebenen Buch „Merkel: Eine kritische Bilanz“.

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Regina Einig