Exercitium: Die Person und das Heilige

Das ganze Bemühen der Mystiker habe immer darauf abgezielt zu erreichen, dass es in ihrer Seele keinen Teil mehr gibt, der ,ich‘ sage, meinte die französische Philosophin und Konvertitin Simone Weil, die katholisch wurde. Eine Betrachtung. Von Lorenz Jäger

Handschriften zu betrachten und auszulegen, in ihnen das Lebensbild ihres Urhebers zu finden, ist eine schöne Geistesbeschäftigung, auch wenn sie ein wenig nach esoterischen Hinterzimmern klingen mag. Indes nimmt der katholische Katechismus die Schriftdeutung von der allgemeinen und scharfen Verurteilung der Wahrsagekünste wohl nicht zufällig aus.

Zwei Handschriften kommen mir immer wieder in den Sinn, sie haben etwas gemeinsam. Es sind die von Albert Einstein und die von Papst Benedikt XVI.; in beiden Fällen geht es darum, wie sie mit ihrem Namen unterzeichnen. Die Unterschrift des Normalpolitikers – oder auch des großen, etwa Napoleons – ist kraftvoll im Druck, manchmal aggressiv, oft kaum leserlich – in Eile hingeschrieben, das „Expressive“ steht über dem Sachlichen –, gern ein Bild der jeweils eigenen Größenvorstellung.

Die Signaturen Einsteins aber und Kardinal Ratzingers stehen ganz jenseits von solchen Selbstvergrößerungen. Sie sind klar in der Struktur, völlig transparent, von einer gewissen Weite – aber nicht ausschweifend –, sofort und ohne Entzifferungskünste lesbar. Unmittelbar drängt sich der Eindruck auf, dass diese beiden Menschen, jeder auf seine Art, im Kontakt mit einer überpersönlichen Sphäre standen und stehen, in der irdische Eitelkeiten und Expressionen nicht mehr so viel zählen.

In diesen Wochen erscheint im Wiener Karolinger-Verlag Simone Weils Abhandlung „Die Person und das Heilige“, die einen Schlüssel für unsere kleine Graphologie abgeben kann.

Simone Weil, geboren als Jüdin 1909 in Frankreich, gestorben – vermutlich – als Katholikin 1943 in Großbritannien, war eine Denkerin von ganz eigenem Format. Revolutionär und sozial gestimmt, für kurze Zeit auf republikanischer Seite im spanischen Bürgerkrieg engagiert, dann philosophierende Mystikerin. Trotzki, der exilierte Gründer der Roten Armee, den sie Anfang der dreißiger Jahre in ihrem Elternhaus trifft, war überrascht: „Aber Sie sind ja völlig reaktionär!“ Er hatte nur zum Teil Recht. „Die Person und das Heilige“: Gemeint war der Titel im Sinne einer strikten Alternative. „Das, was heilig ist“, schreibt Simone Weil, „ist keineswegs die Person, sondern es ist das, was in einem Menschen unpersönlich ist.“

Das war zu der Zeit, da diese Frau wirkte, eine kleine Ketzerei, galt doch der „Personalismus“ als einflussreiche philosophische Schule auch in der Kirche viel. Man glaubt aber nun zu erkennen, wie tief die „revolutionäre“, anti-bourgeoise Intuition Simone Weils mit der Mystik verbunden war: „Der gregorianische Gesang, die romanischen Kirchen, die Ilias, die Erfindung der Geometrie sind für die Menschen, durch die diese Dinge auf uns gekommen sind, keine Gelegenheiten zur Entfaltung ihrer Person oder Persönlichkeit gewesen.“ In der Wissenschaft sei heilig die Wahrheit, in der Kunst die Schönheit, beide nur in einer überpersönlichen Sphäre denkbar. Unpersönlich sei die Vollkommenheit. Die Person aber – „das ist der Teil des Irrtums und der Sünde in uns. Das ganze Bemühen der Mystiker hat immer darauf abgezielt zu erreichen, dass es in ihrer Seele keinen Teil mehr gibt, der ,ich‘ sagt.“ Es ist vielleicht kein Zufall, dass Simone Weils Bruder Mathematiker war, auch ein Bewohner überpersönlicher Reiche.

Eine Rechtfertigung der Mystik aus dem philosophischen Nachdenken, ungemein schön, man empfindet Ehrfurcht vor einer Frau, die solcher Überlegungen fähig war. Dürfte ich mir meine Heiligen wünschen, sie wäre darunter.

Und doch gibt es auch gleich einen Zweifel. Simone Weil scheint sich, wenn man der Literatur glauben darf, eine „Leidenspflicht“ auferlegt zu haben, die zu ihrem frühen Tod führte, unser barbarischer Name dafür lautet wohl Magersucht. Ich möchte genauer wissen, ob in ihrem philosophischen Hymnus auf das Überpersönliche nicht seinerseits ein allzu Persönliches, Pathologisches steckt, und werde ihre Abhandlung wiederlesen.

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Albert Einstein Benedikt XVI. Heiligtum Simone Weil

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