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Für sie ist kein Aufwand zu groß

Der Marsch für das Leben in Berlin: 7 500 Menschen demonstrierten für das Recht ungeborener Kinder auf Leben. Von Cornelia Kaminski
Poster Fotografie  Kiel - Berlin
Foto: ALfA | Nächstes Jahr am 22. September: der Berliner Marsch für das Leben.

Seit 2002 findet in Berlin, meistens am dritten Samstag im September, eine Demonstration für das Recht auf Leben statt. Ausgehend von der Annahme, dass täglich in Deutschland nahezu 1 000 Kinder ihr Leben durch eine Abtreibung verlieren, zogen die als Zeichen der Trauer meist schwarz gekleideten Menschen mit einem weißen Holzkreuz durch Berlin. Die Kundgebung fand auf einer kleinen Bühne auf dem Alexanderplatz statt, der Abschlussgottesdienst war damals noch problemlos in der Hedwigskathedrale möglich – und die gesamte Veranstaltung verlief friedlich und unbehelligt, zwar von der Polizei geschützt, dies aber durchaus dezent und kaum wahrnehmbar. Wie sich die Zeiten ändern ...

Was damals unter dem Motto „1 000 Kreuze für das Leben“ startete und seit 2006 „Marsch für das Leben“ heißt, ist in diesem Jahr auf eine Teilnehmerzahl von 7 500 gewachsen. Der Marsch selbst findet nach wie vor am Nachmittag statt, wird aber mittlerweile umrahmt von einer ebenfalls vom Bundesverband Lebensrecht organisierten wissenschaftlichen Tagung am Tag zuvor sowie einem Lebensrechtswochenende für Jugendliche, das bis Sonntagvormittag dauert. Auch Messen und Gebetsveranstaltungen in Berlin selbst sowie andernorts gehören zum Programm. Die weißen Holzkreuze, die noch in den Anfangsjahren ausschließlich das Bild prägten, treten angesichts der vielen mitgeführten Plakate, die eine lebensbejahende Botschaft verkünden, mehr in den Hintergrund. Viele junge Menschen sind dabei, ganze Familien mit ihren Kindern. So mancher Zuschauer liest die Sprüche auf den Plakaten – „Die Schwächsten schützen“, „Jedes Kind soll leben dürfen“ – und entschließt sich spontan, mitzulaufen. Die Kundgebung findet mittlerweile direkt vor dem Reichstag statt, da hier das Gelände groß genug ist, um die Menschenmenge zu fassen, und der ökumenische Gottesdienst wird schon lange nicht mehr in der Hedwigskathedrale, sondern auf einem großen Platz im Freien abgehalten. Eine professionelle Band – in diesem und im letzten Jahr die hervorragende Berliner Band Gnadensohn – begleitet Kundgebung und Gottesdienst musikalisch, weiter hinten stehende Teilnehmer können das Geschehen über eine Leinwand verfolgen. Die Stimmung ist großartig: Der dritte Samstag im September ist für viele Lebensrechtler ein gesetzter Termin; man sieht sich, tauscht sich aus und freut sich darauf, ein deutliches, öffentliches Bekenntnis für das Recht auf Leben abzugeben. Busse aus ganz Deutschland sind nach Berlin gefahren, Sonderfahrten mit der Bahn kommen hinzu. „Ich organisiere die Fahrt aus Osthessen“, erzählt eine Teilnehmerin. „Ich habe mir vorgenommen, jedes Jahr die Teilnehmerzahl zu verdoppeln – in den letzten Jahren hat das geklappt!“ Auf die Frage, ob sie das im nächsten Jahr auch wieder anstrebe, grinst sie etwas verstohlen: „Naja, da müsste ich jetzt 120 günstige ICE-Tickets auf Vorrat kaufen. Mal sehen!“ Drei Stunden dauert die Anreise aus Fulda, morgens um 8 Uhr geht es los, abends um 22 Uhr sind alle wieder zu Hause. Für andere ist die Anreise ein wesentlich größerer Kraftakt: Wer aus München zum Marsch nach Berlin fährt, muss schon tief in der Nacht losfahren und ist erst am frühen Sonntagmorgen wieder zu Hause. Mitfahrgelegenheiten aus ganz Deutschland gibt es jedoch genug – nahezu vierzig Sonderbusse werden jedes Jahr gemeldet. Mit dabei ist auch eine wachsende Anzahl von Priestern, Bischöfen und Weihbischöfen: Heiner Koch, Erzbischof von Berlin, sprach im letzten Jahr, dieses Jahr hielt Bischof Voderholzer aus Regensburg die Predigt beim Abschlussgottesdienst. Das sind die positiven Entwicklungen rund um dieses zentrale Lebensrechtsevent in Deutschland.

Jede erfolgreiche Bewegung hat aber auch ihre Feinde. Die Gegenseite, die in den ersten Jahren hauptsächlich aus einer Handvoll Parolen skandierender Aktivisten bestand, ruft mittlerweile schon Monate vorher auf einschlägigen Webseiten zum aktiven Widerstand gegen den Marsch für das Leben auf – teils mit prominenter politischer Unterstützung. So ist zum Beispiel noch heute auf der Webseite von Katja Kipping, Vorsitzende der Linken, der Aufruf zu lesen, den Marsch für das Leben 2015 zu blockieren: „Am 19. September wollen die Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegner unter dem Motto „Marsch für das Leben“ in Berlin ihre mittelalterlichen Parolen verbreiten. Ein breites Bündnis wird sich ihnen in den Weg stellen. Ich rufe alle auf, sich den Protesten gegen Neokonservative und christliche Fundamentalistinnen und Fundamentalisten anzuschließen und am 19. September für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auf die Straße zu gehen.“ Im selben Jahr brachte eine Sitzblockade der linken Aktivisten vom sogenannten „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ den Marsch für zwei Stunden zum Stillstand. Wer aber mit Eskalation gerechnet hatte, wurde enttäuscht. Die schon damals über 6 000 Teilnehmer warteten seelenruhig darauf, dass die Berliner Polizei die Blockierer beiseite trug, und setzten schließlich ihren friedlichen Schweigemarsch fort. Es offenbart sich hier ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie und Toleranz: Der Marsch für das Leben ist eine genehmigte Demonstration, das Anliegen der Teilnehmer könnte kaum wichtiger sein. Schließlich geht es um das grundlegendste aller Menschenrechte, ohne das gar keine weiteren Menschenrechte eingefordert werden können: das Recht auf Leben. Und dennoch: Blockaden, obszöne Gesten, lautes Geschrei bestimmen das Bild auf der Gegenseite, wobei die skandierten Sprüche wenig originell sind: „Eure Kinder werden alle queer“, schreit man den Lebensrechtlern jedes Jahr entgegen, oder aber auch „Eure Kinder werden so wie wir“. Offensichtlich taugt nur ein gereimter Spruch, was merkwürdig altbacken daherkommt bei einer Truppe, die sich sonst gern als besonders hip verkauft. Deutlich menschenverachtend auch der Lieblingsspruch der Lebensfeinde: „Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben“, tönt es den Demonstranten entgegen. Kein Lebensrecht für ungeborene Kinder – und keins für die, die es schützen wollen, lautet die Botschaft. Ein seltsamer Kontrast zur Botschaft der Lebensrechtler, die auf ihren Plakaten das Lebensrecht für alle Menschen einfordern – auch für das der Gegendemonstranten.

Allein: Eine Debatte ist das nicht. Es fehlen auf der Gegenseite die Inhalte und die Argumente, und es fehlt der Wille zur Auseinandersetzung mit den Positionen der Lebensrechtsbewegung. Diese Erfahrung muss ein Marschteilnehmer machen, der sich nach dem Abschlussgottesdienst mit einer Kiste voller Laugenbrezeln an die Demonstranten der Gegenseite wendet. „Na, ihr wart doch auch den ganzen Tag auf den Beinen. Wollt ihr eine Brezel?“, fragt er freundlich, was mit „Hau bloß ab!“ und wüsten Beschimpfungen quittiert wird. Sichtlich irritiert suchen die sexuell Selbstbestimmten das Weite, woraufhin ein Polizist fragt, ob er vielleicht eine Brezel haben könne. Die bekommt er natürlich, was die Gegenseite zu einem weiteren flotten Reim inspiriert: „Polizisten nehmen Brezeln von Christen!“

Auf unfreiwillig komische Weise wird hier deutlich, wogegen sich das Berliner Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, das zur Gegendemo aufgerufen hatte, wirklich wendet. Ziel der Angriffe sind Christentum und Rechtsstaat. Vor diesem Hintergrund ist es äußerst bedenklich, dass der Berliner Bürgermeister Michael Müller eben diesem Bündnis für seine Gegendemo zum Marsch für das Leben ein Grußwort zukommen ließ. Ob er weiß, wem er da für seinen Einsatz dankt? „Ich verstehe das nicht“, sagt kopfschüttelnd ein Priester aus Kamerun, der zum ersten Mal beim Marsch für das Leben dabei ist. „Es gibt doch Meinungsfreiheit und Demokratie in Deutschland!“ Wohl wahr. Aber der Marsch für das Leben transportiert eine unbequeme Botschaft. „My body, my choice: Raise your voice“ reimen die Protestler auf Englisch – zu Deutsch etwa: Mein Körper, meine Entscheidung: Erhebt eure Stimme! Individualismus und Egoismus stecken dahinter. Die Antwort tragen einige der zahlreichen Jugendlichen, die dieses Jahr dabei sind, auf ihren hellgrünen T-Shirts: „It‘s a child, not a choice!“ steht da. Um ein Kind geht es, nicht einfach nur um eine Entscheidung. Das Lebensrecht eines Menschen darf man nicht von seinem Aufenthaltsort abhängig machen: Was für auf dem Mittelmeer treibende Flüchtlinge gilt, sollte doch auch für ungeborene Kinder in Deutschland möglich sein? Ein Kind zur Welt bringen, heißt lebenslang dafür unter Umständen durchaus aufopferungsvoll Verantwortung übernehmen. Offensichtlich opfert man aber lieber die Kinder, als den eigenen Lebensstil. An diese Wahrheit erinnert der Marsch für das Leben. Kein Wunder, dass darauf aggressiv reagiert wird.

Die hellgrünen T-Shirts prägen die Fotos vom Marsch 2017, der erstmalig durch das Brandenburger Tor ziehen konnte. Sie sind Teil der Bestrebungen, den Marsch auch in den Medien mehr als das darzustellen, was er ist. Hier sind nicht, wie medial oft behauptet wird, christlich-fundamentalistische Spinner unterwegs, sondern eine generationenübergreifende, überkonfessionelle und überparteiliche Bewegung, die von der Überzeugung getragen ist, dass eine Gesellschaft nur dann menschlich ist, wenn sie die Rechte ausnahmslos aller Menschen schützt. Zunehmend reisen junge Leute nach Berlin, viele von ihnen mit Hilfe der Initiative „Geh Du Für Mich“. Sie bietet Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nicht am Marsch teilnehmen können, die Möglichkeit, einen finanziellen Beitrag zur Fahrt eines jungen Menschen zu leisten, dem für die Fahrkarte nach Berlin das Geld fehlt. Die Organisation dieses Mega-Events liegt dabei in den Händen nur weniger Leute: Ein sechsköpfiges Team – fünf davon ehrenamtlich – kümmert sich um das Motiv und den Slogan des Marschs, lässt Flyer, Poster und Einladungen drucken, aktualisiert den Facebook-Auftritt und die Homepage des Marsches, lädt Politiker, Prominente und Kirchenvertreter ein, erbittet Grußworte, stellt das Programm der Kundgebung zusammen, sorgt für genügend Ordner und deren Schulung, führt Gespräche mit der Polizei, stellt sicher, dass Bühne und Technik sowie Schilder, Plakate und Kreuze vor Ort einsatzbereit sind und macht durch Pressemitteilungen auf die Veranstaltung aufmerksam. Finanzielle Unterstützung leisten die Mitgliedsverbände des BVL: Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) und Christdemokraten für das Leben (CDL), Ärzte für das Leben (ÄfdL), Treffen Christlicher Lebensrechts-Gruppen (TCLG) und Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren (KALEB), die Selbsthilfegruppe für Frauen nach Abtreibung Rahel, Durchblick (der unter anderem die Embryonenoffensive startete), Europäische Ärzteaktion, Juristen-Vereinigung Lebensrecht (JVL), Pro Conscientia, pro mundis, Weißes Kreuz und die Stiftung Ja zum Leben. Mit Kosten in deutlich fünfstelliger Höhe, die lediglich zum Teil von den während des Marsches gesammelten Spenden gedeckt werden können, stellt dieser Samstag im September den BVL auch jedes Jahr wieder vor eine finanzielle Herausforderung.

Lohnt sich der Aufwand? Ja, er lohnt sich. Da sind sich alle Beteiligten einig. „Wir brauchen dieses öffentliche Bekenntnis zum Schutz des ungeborenen Lebens gerade hier, in der Hauptstadt, vor dem Reichstag. Wenn wir schweigen, wer spricht dann noch für die vielen Kinder, denen das Recht auf Leben abgesprochen wird?“, so die Vorsitzende des BVL, Alexandra Linder.

Der Marsch für das Leben spricht laut und deutlich eine unbequeme Wahrheit aus. Er bietet den vielen Menschen, die sich dieser Wahrheit verpflichtet fühlen, eine Gelegenheit, dies auch öffentlich zu bekennen. Er eint und stärkt die Lebensrechtsbewegung, er motiviert und verpflichtet uns: Was in Berlin einmal im Jahr seinen öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt findet, wird das ganze Jahr über in unzähligen Aktivitäten gelebt. Durch Gebet, Beratung, konkrete Hilfe für Schwangere in Not und deren Familien, und durch das konsequente, mutige Eintreten für diejenigen unter uns, die unsere Hilfe und Unterstützung am meisten brauchen: die ungeborenen Kinder. Für sie ist kein Aufwand zu groß.

Wir freuen uns über einen Beitrag zu unserer Aktion Geh Du Für Mich – bitte überweisen Sie hierfür auf das Konto der ALfA bei der AugustaBank eG, IBAN: DE85 7209 0000 0005 0409 90 mit dem Stichwort „Geh Du Für Mich 2018“.

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