Wanda Póltawska in ihrer geräumigen Wohnung, die sich in Nähe des Krakauer Marktplatzes mit den berühmten Tuchhallen und der Marienkirche befindet, zu besuchen, ist kein Problem. Auch nicht zu Corona-Zeiten. „Das ist eine idiotische Sache“, sagt die 98-Jährige, die in Polen, aber auch in der Weltkirche längst eine Legende ist. „Es gab immer Seuchen, Kriege. Es ist nicht Harmagedon.“ Sie muss es wissen. Als junge Frau durchlitt sie mit anderen Frauen die grausamen Experimente der Nazis im KZ Ravensbrück, von denen sie in ihrem Buch „Und ich fürchte meine Träume“ (Neuauflage 2019, fe Medien) eindrucksvoll berichtet, danach arbeitete sie als Psychiaterin in Krakau, heiratete den Philosophen Andrzej Póltawski und wurde mehrfache Mutter.
Der Welt fehlt es an Weisheit
Der Mann aber, durch den sie weltweit bekannt wurde, war ein anderer: der Krakauer Priester und Ethik-Professor Karol Wojtyla, den sie schon vor seiner Ernennung zum Metropoliten der Stadt kennenlernte. Er war der erste Priester, der ihr wirklich zuhörte, ihr Leiden ernst nahm und ihr zur täglichen Teilnahme an der hl. Messe riet. Als Póltawska an Krebs erkrankte und die Ärzte kaum noch Hoffnung hatten, dass sie überleben würde, wandte sich Wojtyla an den italienischen Mystiker Pater Pio, dessen Gebet zur wundersamen Heilung der starken Frau beitrug. Zusammen mit Wojtyla setzte sie sich für das Wohl der Familien in der Diözese ein. Als der Krakauer Hirte 1978 Papst wurde, was die geheimnisvolle Frau kommen sah, setzte sie ihren Dienst auch international fort: mit Vorträgen bei Konferenzen und weiteren Büchern, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Schließlich gehörte Póltawska auch zu den Auserwählten, die an Johannes Pauls II. Sterbebett harren durften. Sie hörte als letzten Satz des großen Mannes und Papstes: „Der Welt fehlt es an Weisheit.“
Weisheit – madrosc. Ein Schlüsselbegriff für Wojtyla. Ebenso wie Wahrheit – prawda, Samoposiadanie oder Samopanowanie – Selbsteigentum. Und uniesienie, was man mit innerem Jubel, der inneren Erfahrung des Guten übersetzen könnte. Schlüsselbegriffe, Koordinaten für den Weg des Menschen zur Heiligkeit, den Wojtyla den Menschen aufzeigen wollte. Jungen und Alten, Frauen und Männern. Durch die vielen Heiligsprechungen seines Pontifikats, sein Tun und Wirken, sein Denken und Lehren.
Das Streben nach Heiligkeit
war für ihn immer auch mit
Selbsterkenntnis und Weisheit gekoppelt
Würde des Menschen begründet darin zu wissen, wer man ist
Wobei Johannes Paul II., wie Wanda Póltawska betont, die Verantwortung des Einzelnen für sein Leben stets unterstrich. Man muss sich selbst darum bemühen, ein Heiliger zu werden, das könne einem kein anderer Mensch abnehmen, zitiert Wanda Póltawska ihren großen Lehrer aus dem Gedächtnis. Tatsächlich ging es Wojtyla, der mit dem Buch „Person und Tat“ schon früh auf dem philosophischen Gebiet des Personalismus brillierte, stets darum, dass der Mensch sich selbst so gut wie möglich zu verstehen lerne, die Wahrheit seines Lebens. Was eine der Bedingungen ist, um Heiligkeit zu erlangen. „Johannes Paul II. wollte, dass ein Mensch weiß, wer er ist, denn er sah darin die Würde des Menschen begründet. Das Streben nach Heiligkeit war für ihn immer auch mit Selbsterkenntnis und Weisheit gekoppelt, wie er es in dem Apostolischen Schreiben ,Novo Millennio Ineunte‘, das er selbst als ,Pädagogik der Heiligkeit‘ bezeichnete, ausgedrückt hat.“ Es zählt aber auch das richtige Handeln auf Grundlage der richtigen Erkenntnis.
Natürlich wusste Johannes Paul II., dass dies ein langwieriger Prozess ist und dass der Mensch Grenzen hat. „Karol Wojtyla riet stets dazu, um die Gaben des Heiligen Geistes zu beten. Er wusste, dass der Mensch sich als Geschöpf am besten entwickeln kann, wenn er die Nähe zum Schöpfer sucht, zu demjenigen, dem er sein gesamtes Sein verdankt.“
Die Aura der Heiligkeit war zu spüren
Auch wenn Johannes Paul II. zu seinen Lebzeiten nicht beanspruchte, ein Heiliger zu sein, so betont Póltawska, dass man diese Aura doch gespürt habe. „Er war ein sehr spezieller Mensch. Wir sind natürlich alle speziell. So hat uns Gott gemacht, einzigartig, aber Wojtyla war wirklich ein durch und durch guter Mensch. Ein Heiliger im moralischen Sinne. Und ein intellektuelles Genie. Dabei aber demütig und zurückhaltend. Er hat nie gesagt ,Ich denke‘ oder ,Du sollst dies oder das tun‘. Was er sagte, war nur: ,Lass uns sehen, was Gott dazu denkt.‘ Dann schaute er in der Heiligen Schrift nach, wo alles aufgeschrieben ist, das zur Heiligkeit und Wahrheit führt.“
Ein bescheidener Lebens- und Denkstil, der etwas Faszinierendes hat, auch wenn viele Gläubige das Geheimnis dieses Mannes bis heute nicht verstanden haben. Die deutschen Bischöfe zum Beispiel, wie Wanda Póltawska in ihrer direkten, forschen Art sagt. Und wer könnte dieser resoluten Dame in ihrem schönen Reich mit den vielen Büchern, den Fotos von Johannes Paul II. und der Aussicht auf den Marktplatz widersprechen? Ist es nicht überhaupt ein Wunder, dass sie sich Zeit nimmt, ausgerechnet mit einem Deutschen für deutsche Leser über den Mann zu sprechen, mit dem sie fast 60 Jahre kooperiert hat. Im Dienste des Geistes und Glaubens?
Glaube ist etwas Radikales
Niemand soll Macht über Deine Seele haben
„Glaube ist etwas Radikales“, sagt Wanda Póltawska denn auch, als herausragende Wojtyla-Schülerin, die jedoch nicht beansprucht, ihn am besten verstanden zu haben („Wojtyla sagte selbst, dass ein schüchterner Priester, ein Theologe aus Tarnow, seine Lehre am besten kennt“). Jedoch betont sie: „Man muss sich, wie Wojtyla klar machte, auch anstrengen zu glauben. Mit dem Geist und mit dem Verstand, die auch Gaben Gottes sind und helfen sollen, Gott zu erkennen und zu glauben.“ Alles jedoch, das wusste auch der Fast-Alles-Wissende Wojtyla, kann der Mensch nicht mit eigener Verstandeskraft erkennen. Deshalb sei der „Respekt vor dem Geheimnis“ so wichtig, sagt Wanda Póltawska und nimmt einen Schluck aus dem Kaffeebecher.
Sie selbst, so scheint es, hat schon vor der Begegnung mit Wojtyla das Wesentliche verstanden. Ein Grund vielleicht, wieso er sie als „meine Schwester“ bezeichnete. Tatsächlich betrachtet Póltawska ihre Zeit in Ravensbrück als „große Exerzitien“, in denen sie gelernt habe, wie man unter extrem widrigen Umständen überlebt. „Ich habe dort niemals meine innere Freiheit verloren. Ich habe nichts gegen meinen Willen getan. Niemand konnte mich dazu bewegen, etwas zu stehlen oder mich in ein Tier zu verwandeln. Du wirst derjenige, der Du sein willst. Dank des Willens. Erlaube niemand, Macht über Deine Seele zu haben.“
Nicht allein auf der materiellen Ebene
Man kann sich vorstellen, wie Karol Wojtyla gefühlt haben mag, als die nur eineinhalb Jahre jüngere Frau ihm diese persönliche Überlebensstrategie mitteilte. Wie sie überhaupt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf sein Werk gehabt haben dürfte. Die erwähnte psychologische Fachliteratur in Wojtylas Buch „Liebe und Verantwortung“ spricht jedenfalls Bände.
So gewinnt man den Eindruck, dass Karol Wojtyla und Wanda Póltawska eine enorme Wiss- und Lernbegier verband und verbindet, die bei religiösen Floskeln nicht stehenblieb. Der Mensch, der die Heiligkeit anstrebt, wird als ganzes Wesen in seiner komplexen Tiefe verstanden. Fern von eindimensionalen Schemata, wie sie in manchen katholischen Kreisen gepflegt werden.
„Der Mensch kann nicht ohne die innere Erfahrung des Guten leben“ - „Czlowiek nie moze zyc bez uniesien.“ Mit diesem Satz, so Póltawska, versuchte Wojtyla deutlich zu machen, dass der Mensch nicht allein auf der materiellen Ebene leben und existieren kann. Es sei, fügt die Ärztin hinzu, sogar so, dass der Mensch, wenn er stirbt, nur dies mitnehme zu Gott, diese Erfahrung. Nicht aber sein Wissen.
Dann schaut sie geradezu empört auf die Maske des Besuchers, schüttelt den Kopf und sagt: „Warum tragen Sie das? Haben Sie Angst vor dem Sterben?“ Nach diesem Besuch etwas weniger.
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