Nachdenkliche Fragen

Lässt sich Leben tatsächlich so leben, dass es sich selbst als Gabe, datum, versteht? Das setzt nicht nur voraus, dass das eigene selbstverständliche Dasein gerade nicht selbstverständlich, gar missmutig hingenommen, sondern als immer erneut staunenswert, immer erneut aus dem ebenso möglichen Nichtsein gehoben erfahren und dankend bestätigt wird. Tiefer aber setzt es voraus: Ein solches Leben müsste befreit sein von der Angst vor der Endlichkeit, vor seinem eigenen Ungenügen. Es müsste nicht als Raub festhalten, was ihm aus „Huld“, aus unerklärlicher Überfülle gegeben ist. Leben ist ins Leben gesetzt, offenbar sich selbst gehörig – aber gerade diese erste aller Gaben ist verdankt. Das setzt gleichermaßen voraus, dass auch anderes Leben diesem Gegebensein entspringt – also keineswegs „ursprünglich“ als Beraubung eigenen Lebensraumes gedeutet werden muss, dass von ihm keine Bedrohung empfunden, kein Vorenthalten und Zu-Kurz-Kommen am Lebensnotwendigen befürchtet wird.

Angstvolle Selbstbeharrung ist erst ein zweites, nachdem diese Gabe in ihrer reinen Annahme misstrauisch verweigert worden war. Allerdings gibt es das von sich selbst besessene Leben, das sich nicht hergeben will, daher auch nicht empfangen kann. Es widerspricht zutiefst dem Grundcharakter des „Umsonst“, gratis, das dem Leben von sich aus eignet. Alle Elemente des Lebens „gibt es“, sie sind nicht einzutauschen gegen die harte Arbeit einer Selbstschöpfung. Vielmehr: gratis e con amore ist der Grundvollzug von Lebendigsein. In der Diktion des Gregor von Nyssa: „Als Widerschein und Bild des Ewigen Lebens war der Mensch wirklich schön, ja sogar äußerst schön, mit dem strahlenden Zeichen des Lebens auf seinem Antlitz.“12

In diesem „Gegönntsein“ von eigenem und anderem Leben erhält Beziehung eine neue, angstenthobene Gültigkeit. Ihr „Existential“ lautet: Dasein als Gabe an mich und meiner selbst an andere, als Gabe anderer an mich. Oder auch: Dasein als Mitsein.

Ist ein solches Leben aus Fülle denkbar? Was wären seine Bedingungen – oder entfallen hier die Bedingungen, als Beschränkungen verstanden, aus derselben Fülle heraus und wären tiefer gelesen die freiwillige und nicht auf Verschuldung antwortende Gegengabe auf die Urgabe, das Leben selbst? Also Leben, das dem Ur-Leben ungeschuldet, ungenötigt antwortet? „Umsonst habt ihr erhalten, umsonst sollt ihr geben“ (Mt 16,8).

Familie: der Raum des Umsonst. Else Lasker-Schüler: Und suche Gott „Ich habe immer vor dem Rauschen meines Herzens gelegen. Nie den Morgen gesehen, Nie Gott gesucht. Nun aber wandle ich um meines Kindes Goldgedichtete Glieder Und suche Gott. Ich bin müde vom Schlummer, Weiß nur vom Antlitz der Nacht. Ich fürchte mich vor der Frühe: Sie hat ein Gesicht Wie die Menschen, die fragen. Ich habe immer vor dem Rauschen meines Herzens gelegen; Nun aber taste ich um meines Kindes Gottgelichtete Glieder.“

12 Gregor von Nyssa, Homilia in Canticum Canticorum 1, PG 44, 1020c.