„Ehe für alle” und neue „Familien”

Schauen wir uns zunächst einmal an, was genau passiert ist, um uns dann zu fragen, wie es passieren konnte. Am 1. Oktober 2017 trat in Deutschland das sogenannte „Eheöffnungsgesetz” in Kraft. Seit diesem Tag können gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland eine „Ehe” eingehen, wie sich das Gesetz weiterhin ausdrückt, und sie können dann auch gemeinsam Kinder adoptieren. Ein analoges Rechtsinstitut gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika schon seit 2015, auch wenn man dort die Gesetzgebung gerne den Gerichten überlässt, dort also kein entsprechendes Gesetz existiert, sondern bloß das Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs vom 26. Juni 2015 (Obergefell v. Hodges). Ob das Gesetz nun von einem Parlament oder von einem Gerichtshof gemacht wurde, das Resultat ist das gleiche: Es gibt nun in beiden Ländern – und momentan in 29 weiteren8 – das, was in Deutschland mit dem Begriff „Ehe für alle” ausgedrückt wird. Es gibt hier also verschiedene gesellschaftlich anerkannte Formen von „Ehe” und somit auch verschiedene Arten von „Familien”.

Nun könnte man meinen, die Ausweitung des Privilegs der öffentlichen Anerkennung auf alle möglichen Arten von Partnerschaften sei einfach eine Geste der Großzügigkeit, die die Rechte anderer nicht verletzte. Schließlich werde ja niemand gezwungen, eine gleichgeschlechtliche Ehe einzugehen, nach dem Motto: „Du magst keine gleichgeschlechtliche Ehe – dann schließe halt keine…”.

Fordert der Gesetzgeber in Deutschland die Bürger nicht lediglich dazu auf, eine großzügige Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersfühlenden an den Tag zu legen? Warum sollte die gleichgeschlechtliche Ehe zweier Menschen der verschiedengeschlechtlichen Ehe anderer Menschen einen Schaden zufügen? Verdienen Liebe, Zuneigung und Engagement nicht öffentliche Anerkennung, unabhängig von der zufälligen Zusammensetzung eines Paares in Bezug auf das biologische Geschlecht?

Oberflächlich betrachtet haben diese Überlegungen einen gewissen Reiz. Aber man kann die Dinge auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Am 27. Juni 2017, wenige Tage vor der Abstimmung des Deutschen Bundestages über die gleichgeschlechtliche Ehe, veröffentlichte Reinhard Müller, leitender Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einen kurzen Meinungsbeitrag zu diesem Thema, in dem er überzeugend darlegte, worum es nach seiner Sicht geht. Er weist darin auf die offensichtliche Tatsache hin, dass die „Ehe für alle” in Wirklichkeit die „Ehe für keinen” bedeutet.9 Wenn jede Art von Verbindung als besonders privilegiert anerkannt wird, dann ist keine mehr privilegiert. Wenn alles Ehe ist, dann ist nichts mehr Ehe. Daher bedeutet das Eheöffnungsgesetz seiner Meinung nach das Ende der Ehe als Rechtsinstitut in Deutschland. Er verweist auch auf die unbestreitbare Tatsache, dass nur eine Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau in der Lage ist, Kinder hervorzubringen, und deutet an, dass dieser in einer biologischen Tatsache gründende Unterschied wichtig genug sein mag, um einen Unterschied in Fragen der rechtlichen, öffentlichen Anerkennung zu rechtfertigen. Mit anderen Worten – und das geht über die kurze Darstellung Müllers hinaus – kann und muss man von Ungerechtigkeit nicht nur in den Fällen sprechen, in denen Gleiches unterschiedlich behandelt wird, sondern auch in den Fällen, in denen das, was wirklich unterschiedlich ist, so behandelt wird, als wäre es etwas Gleiches.

In letzter Konsequenz muss man also urteilen, dass einige Länder effektiv die Ehe als Rechtsinstitut abgeschafft und sich somit auch vom natürlichen Familienbegriff verabschiedet haben. Andere Länder stehen kurz davor. Selbst in der Kirche gibt es starke Strömungen in diese Richtung, wie sie sich etwa beim sogenannten „Synodalen Weg“ in Deutschland zeigen. Wie konnte es soweit kommen? Die Tatsache ist, dass sich der Ehebegriff, unter Verlust seiner Substanz, schon vor Jahren und Jahrzehnten grundlegend gewandelt hatte. Was man weitläufig als „Ehe” bezeichnet, ist schon seit Jahrzehnten eine rein auf Zuneigung basierende Verbindung mit einigen – aus einer noch anderen Zeit herrührenden – Vorrechten und ohne gesellschaftliche Sendung oder Verpflichtungen. So ist denn für den amerikanischen Theologen Scott Hahn die gleichgeschlechtliche „Ehe” auch „nicht Ursache, sondern Symptom des Problems.”10

8 Vgl. Human Rights Campaign, „Marriage Equality Around the World”, in: https://www.hrc.org/resources/marriage-equality-around-the-world [7.6.2022].

9 Vgl. Reinhard Müller, „Ehe für keinen”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Juni 2017, in: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kommentar-zur-ehe-fuer-alle-die-ehe-wird-abgeschafft-15079952.html [7.6.2022].

10 Vgl. Scott Hahn, The First Society. The Sacrament of Matrimony and the Restoration of the Social Order, Steubenville: OH 2018, 3-4: “The truth is that these rulings [of the US Supreme Court on same-sex marriage] only codified the cultural facts on the ground. The vast majority of Americans already considered marriage nothing more than a government-recognized pact of affection and commitment. Opposition to same-sex marriage evaporated so quickly once the concept gained momentum because the popular understanding of marriage left no principled ground on which to oppose the innovation. ... Same-sex marriage isn’t the cause; it’s a symptom.”