Vom Sinn und Ziel der Ehe

Was kann man tun, damit der Unterschied wieder klar wird? Meines Erachtens ist es dazu nicht nur hilfreich, sondern absolut unablässig, ein altes und recht unpopulär gewordenes Thema noch einmal neu zu beleuchten. Es handelt sich um das Thema der sogenannten „Ehezwecke”, auch wenn es vielleicht besser ist, und ich es hier vorziehe, in Anlehnung an den lateinischen Begriff finis, von Ehezielen zu sprechen. Das Wesen einer Sache wird von ihren Zielen definiert. Um zu wissen, was die Natur einer bestimmten Wirklichkeit ist, muss ich wissen, wozu sie da ist, so sie eine bloße Sache ist, oder worum es ihr geht, so sie ein Lebewesen ist. In der traditionellen Ehelehre wurde die Ehe anhand von drei Ehezielen definiert: Ziele, die ihr Wesen beschreiben und charakterisieren und sie zugleich als Basis der Familie beschreiben. Die Fortpflanzung und Erziehung der Nachkommenschaft wurde als erstes Ziel betrachtet. Als zweites Ziel wurde die gegenseitige Hilfestellung der Eheleute bei der Bewältigung der Herausforderungen des Lebens genannt, und als drittes wurde das remedium concupiscentiae angeführt, was oftmals als eine Art Ablassventil für das sexuelle Begehren interpretiert wurde, was man aber wohl angemessener als Heilmittel für die Konkupiszenz verstehen darf: Das sexuelle Begehren wird in den Kontext des personalen und liebenden Umgangs eingefügt und erfährt somit eine Heilung von der ihm aufgrund des Sündenfalls innewohnenden Unordnung.

Gegen die Lehre der drei Eheziele und besonders gegen den Primat der Fortpflanzung und Erziehung von Nachkommenschaft wurde der Einwand erhoben, man verfehle ganz die Rolle der gegenseitigen Zuneigung, der liebenden Gemeinschaft und ehelichen Freundschaft. Besonders im Deutschen hat die Rede von den Ehezwecken eine solche Fehlinterpretation gefördert. Ein Zweck reduziert alles ihm Dienliche auf den Status bloßer Mittel. Ein Ziel hingegen lässt uns nicht an Mittel, sondern an Wege denken, Wege, die zum Ziel führen. Ist die Reise schöne, so sagen wir schon mal, der Weg sei selbst das Ziel. Von einem Mittel würden wir nie sagen, es sei selbst der Zweck. Indem man sich in Gesellschaft und Kirche aus guten Gründen von der falsch verstandenen Lehre der Eheziele abwendete, brachte man sich leider auch um die Möglichkeit, diese Lehre richtig zu verstehen. Eine gesellschaftliche Institution ohne Ziele ist eine Institution ohne Sinn, ohne Natur, ohne Wesen. Es ist eine unförmige Absonderlichkeit, der man nun willkürlich jeden Inhalt geben kann, den man möchte.

Es ist dabei wichtig zu betonen, dass sich die kirchliche Autorität nie gegen die Lehre der Eheziele ausgedrückt hat. So hat das Zweite Vatikanische Konzil in der Hoffnung, sich der im 20. Jahrhundert vorherrschenden Polemik entziehen zu können, in seiner Abhandlung über Ehe und Familie die Terminologie der Eheziele zwar vermieden, es hat diese Lehre ihrem Gehalt nach allerdings bekräftigt. So lesen wir in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes: „Durch ihre natürliche Eigenart sind die Institution der Ehe und die eheliche Liebe auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet und finden darin gleichsam ihre Krönung.”15 Das, auf was etwas hingeordnet ist, ist eben das Ziel der Sache. Wer „Hinordnung auf” sagt, spricht zumindest implizit auch von „Ziel”.

Ein kirchliches Dokument, das besonders hilfreich sein kann um zu verstehen, was mit den Ehezielen ursprünglich gemeint war, und wieso die Idee der Fortpflanzung und Erziehung von Kindern als Primärziel der Ehe nicht im Geringsten bedeutet, die eheliche Gemeinschaft und Freundschaft auf ein bloßes Mittel zum Kinderbekommen herabzusetzen, ist die Enzyklika Casti Connubii von Papst Pius XI. aus dem Jahr 1930. Darin greift der Papst zunächst die traditionelle Terminologie auf und schreibt ganz klar: „Das erste Ziel der Ehe ist die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft.”16 Ein paar Seiten weiter vollzieht er dann aber einen ganz erstaunlichen Schritt, wenn er sagt: „Diese gegenseitige innere Ausformung der Gatten, dieses ständige Bemühen, sich wechselseitig zu vervollkommnen, kann in einer gewissen sehr wahren Weise … sogar der vornehmliche Grund und Sinn der Ehe genannt werden, sofern man nur die Ehe nicht im engeren Sinne als eine Einrichtung zur rechtmäßigen Erzeugung und Erziehung von Nachkommenschaft, sondern im weiteren Sinne als eine Vereinung, Vertrautheit und Gesellung des ganzen Lebens auffasst”17. Diese letzte Passage trägt deutlich „personalistische” Züge, in denen Pius XI. den hohen Wert des gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Ehepartner würdigt und es gar über den traditionellen Ehezielen selbst anzusiedeln scheint. Widerspricht sich der Papst hier? Hat er schon wieder vergessen, was er erst ein paar Zeilen vorher geschrieben hat, als er vom ersten Eheziel der Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft sprach?

Bei genauer Betrachtung der beiden Passagen fällt auf, dass er hier zwischen Ziel und Sinn unterscheidet18. Nun mag der Sinn einer Sache über ihr Ziel hinausgehen. Ihr Sinn mag wichtiger sein als ihr Ziel, und doch kann es sein, dass der Sinn nur unter der Bedingung des Zieles existiert, durch dieses erst zustande kommt und ganz von ihm her definiert wird. Erlauben Sie mir hier ein Beispiel.

Was ist der Sinn einer Pilgerschaft? Worum geht es dem Pilger letzten Endes? Er möchte Gott suchen, beten, eine geistliche Erfahrung machen. Was ist das Ziel einer Pilgerreise? Es handelt sich um einen Wallfahrtsort, ein Heiligtum, wie z.B. Altötting. Das Wichtigste an der Pilgerschaft ist ihr Sinn: Es geht darum, Gott zu suchen und sich ihm zu öffnen. Doch hilft mir dieser Sinn nun nicht, eine Pilgerreise als solche zu definieren. Man kann Gott auf vielerlei Weisen suchen, ihm Zeit geben und zu ihm beten, ohne eine Pilgerreise zu unternehmen. Was die Pilgerreise zur Pilgerreise macht, ist, dass sie eine Reise ist, die auf ein Heiligtum hin ausgerichtet ist. Es handelt sich um eine Reise, die ein Heiligtum als Heiligtum zum Ziel hat, und das ist übrigens ganz unabhängig davon, ob man es letztendlich schafft, bis zum Heiligtum zu kommen oder nicht. Auch wer seine Pilgerreise aufgrund von Verletzungen oder ähnlicher Umstände vorzeitig abbricht, war zuvor die ganze Zeit als Pilger unterwegs. Das Bestimmende ist hier das Ausgerichtet-sein auf das Ziel. Ist das Heiligtum hingegen nun nicht mehr das Ziel, so sprechen wir nur noch von einer Wanderung und sei es eine Gebetswanderung, aber es ist dann keine Pilgerreise mehr.

Analog kann man auch das Ziel und den Sinn der Ehe unterscheiden. Dann ist das erste Ziel der Ehe – nämlich das, was sie als Ehe definiert – das Ausgerichtet-sein auf Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft, und dies sogar unabhängig davon, ob Gott dem Ehepaar tatsächlich Kinder schenkt oder nicht. Der Sinn geht noch weit darüber hinaus, ist aber für seine Existenz vom Vorhandensein des Zieles im Sinne der Ausrichtung abhängig. Es ist in einer so definierten Gemeinschaft, dass man eine menschliche Nähe und Art von Freundschaft erfährt, die in ihrer Intensität und Intimität einzigartig ist. Wie es auf der Erde keine tiefere Vereinigung von zwei Menschen gibt, als Vater und Mutter gemeinsamer Kinder zu sein, so wird es auch schwerlich einen größeren Ausdruck der Liebe geben, als zum anderen zu sagen: „Ich will, dass du die Mutter/der Vater meiner Kinder wirst.” In dieser Hinsicht bedeutet, Ehemann einer Frau zu sein, der potentielle Vater ihrer Kinder zu sein, und Ehefrau eines Mannes zu sein, bedeutet die potentielle Mutter seiner Kinder zu sein. Die Tatsache, dass Mann und Frau einander auf diese Weise sehen, bedeutet keine Instrumentalisierung im Hinblick auf die Zeugung von Nachkommenschaft. Es bedeutet lediglich, dass die eheliche Liebe auf die Bildung einer Familie hingeordnet ist, und dass die eheliche Freundschaft hierin ihre spezifische Eigenschaft hat, die sie von jeder anderen Art von Freundschaft unterscheidet.

Gibt es nun die eine Familie nach Gottes Plan? Ergibt es auch heute noch Sinn, von einer natürlichen, in der Schöpfungsordnung gegründeten Familie zu sprechen? Die vorausgegangenen Erläuterungen sollten zeigen, warum sich diese Frage überhaupt stellt. Wie kam es dazu, dass man heute vielerorts nicht mehr von der Ehe und der Familie spricht, sondern von verschiedenen Arten von „Ehe“ und von unterschiedlichen Familienmodellen? Ich habe im Vorausgehenden argumentiert, dass der Ursprung dieser Entwicklung in der von der sexuellen Revolution vorgenommenen Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit liegt. Von einer „auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft“ hingeordneten Institution19 wurde die Ehe zu einer auf gegenseitiger Zuneigung basierenden Einrichtung. Zuneigung aber können natürlich auch Menschen gleichen Geschlechts füreinander empfinden, wie übrigens auch Unverheiratete. Verliert die Ehe das, was für sie spezifisch ist, dann wird „Ehe“, was immer man gerade „Ehe“ nennen möchte. Damit wird auch der Familienbegriff willkürlich. Das Problem ist die Sterilität solcher Beziehungen. Um es nochmal mit Papst Franziskus zu sagen: „Keine widerrufliche oder der Weitergabe des Lebens verschlossene Vereinigung sichert uns die Zukunft der Gesellschaft.”20 Gott möchte, dass wir das Leben haben und es in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). Daher kann nur diejenige Familie nach seinem Plan sein, die die Zukunft der Gesellschaft und der Kirche garantiert, und da kann es nur eine geben, nämlich die, die sich von ihrer Struktur her und ihrem Wesen nach ganz in den Dienst des Lebens stellt.

15 GS, 48.

16 Pius XI., Enzyklika Casti Connubii, 31.12.1930, „Matrimonii finis primarius est procreatio atque educatio prolis”, in: https://www.vatican.va/content/pius-xi/la/encyclicals/documents/hf_p-xi_enc_19301231_casti-connubii.html [7.6.2022]. 17 Ebd., Übersetzung nach Heinrich Denzinger und Peter Hünermann, Enchiridion Symbolorum Definitionum et Declarationum de Rebus Fidei et Morum, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Lateinisch-Deutsch, Freiburg i. Br. 442014, 940-941, 3707. 18 Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung erkannte schon Herbert Doms in seinem sehr einflussreichen und bei Erscheinen sehr kontrovers diskutierten Buch Vom Sinn und Zweck der Ehe, Breslau 1935. Doms gilt heute als einer der Vordenker des personalistischen Eheverständnisses, das bei allem Verdienst jedoch dahin tendierte, die Wichtigkeit des Primärzieles der Ehe zu verkennen und somit half, den oben beschriebenen Entwicklungen Vorschub zu leisten.

19 GS, 48. 20 Franziskus, Nachsynodales Schreiben Amoris laetitia, 52.