Kind als Gabe und Aufgabe

Die tiefe Bestimmung des Menschen heißt Sich-Gegeben-Sein. In diesem Dasein ist niemand Kopie, Sklave, ersetzbar von Tausenden. sondern selbst in seiner Grenze frei und einzig, wesentlich sogar sich selber „freigegeben“. Dieses Urgeschenk dazusein verbindet sofort das Glück des Daseins mit der Grenze des Soseins. In dieser Endlichkeit, in bestimmter und damit begrenzter Gestalt sich vorzufinden, fordert gute wie selbstzerstörerische Versuche heraus, sich selber anders und gegen die Grenze zu gestalten. Und in der Tat würde die Philosophie gerade auch der Neuzeit zustimmen, dass die menschliche Plastizität, die sich in dem Wort „Autonomie“ eine eher täuschende Formel geschaffen hat, einer Selbstschöpfung unterliegt, allerdings nicht endlos. Wird diese Autonomie als Macht verstanden, Endlichkeit und datum/Gabe überhaupt nicht anzuerkennen, wird die Freiheit des Geschenktseins aufgehoben, in eine Verschlossensein gegenüber dem Geber und sich selbst umgewandelt.

Nochmals: Wir sind nicht nur ein „factum“, von irgend jemandem gemacht oder wieder abgeschafft, sondern „genitum“, gezeugt. Gezeugt wovon? Emmanuel Levinas: „Der Sohn ist nicht einfach hin mein Werk, wie ein Gedicht oder wie ein fabrizierter Gegenstand; er ist auch nicht mein Eigentum. Weder die Kategorien des Könnens noch die des Habens können das Verhältnis zum Kind anzeigen. Weder der Begriff der Ursache noch der Begriff des Eigentums erlauben es, die Tatsache der Fruchtbarkeit zu erfassen.“ Maria Montessori, die große Pädagogin, erläutert dies mit Hilfe einer Sprachwendung: Dass die Eltern „das Kind ‘zum Licht der Welt’ gebracht haben, [...] ist eine tiefere Grundlage [...] für das klare Bewusstsein, dass die Eltern sich verantwortlich fühlen gegenüber Gott für das Kind, das er ihnen anvertraut hat. [... so] ist das Bewusstsein lebendig, dass sie nur einen unbedeutenden Anteil haben am Prozess der Empfängnis und der Geburt, verglichen mit dem Anteil, den die Natur daran hat. Wirklich werden die Keimzellen, aus denen das Kind sich entwickelt, nicht ins Leben gerufen durch einen Willensakt des Menschen. [...] Es ist nicht die Mutter, welche dann das Wachstum des Kindes in ihrem Schoß vollbringt. Das Kind vollbringt es durch die Kraft des Wesens, das in ihm erschaffen ist. Es ist nicht die Mutter, welche den Akt der Geburt des kleinen Kindes vollbringt; dieser wunderbare Akt wird von der Natur vollzogen, und von der Mutter wird er nur unterstützt. [...] So fühlen die Eltern einen solchen natürlichen Respekt gegenüber dem Kind, das auf so wunderbare Weise bei ihnen angekommen ist.“6

Von daher zeigt sich die sachhafte Verbindung der „Kultur des Lebens“ mit dem theologisch gewendeten Gedanken des göttlichen Ursprungs eines jeden. Kindsein zeigt nicht nur beispielhaft die unleugbare menschliche Bedürftigkeit einer Annahme durch andere, die sich in Geburt und später wieder bei Krankheit und Sterben meldet. Kindsein zeigt auch die „theologische, ewige Bedeutung des Geborenwerdens [...], die endgültige Seligkeit des Her-seins aus einem zeugend-gebärenden Schoß“7, aus dem göttlichen Urwillen, der will, „dass ich sei“. Das ist das unabänderliche Glück jedes menschlichen Anfangs; von daher verbietet sich seine Zerstörung. Die „Seligkeit, gewollt zu sein“, und zwar unabhängig vom Wunsch der Eltern, macht den Menschen aus. Mit dem frühchristlichen Apologeten Justinus (+ um 165) gesprochen: „Bei unserer Geburt sind wir, ohne darum zu wissen und ungefragt, bei der Verbindung der Eltern aus feuchtem Samen geboren worden [...] Doch wir sollten nicht Kinder der Notwendigkeit und der Unwissenheit bleiben. Vielmehr sollten wir Kinder der Erwählung und der Erkenntnis werden.“8 Das „Voraus“ unserer Geburt, das Geschenk, das wir sind, können wir dadurch einholen, dass wir anderen dieselbe Geburt gönnen, die eigene Erwählung ins Leben einräumen. Das ist vorbehaltloser Umgang mit dem Urgeschenk: dazusein. Selbstverständlich ist zu fragen, ob mit dem vorgeburtlichen Leben behebbare oder linderbare Schäden verbunden sind, die behandelt werden sollen. Aber nicht ist das Kind selbst ein Schaden – dass andere es als solches betrachten, berührt das Datum seines Daseins nicht. Wo Zukunft nur durch Machen oder Abschaffen festgelegt wird, ist sie nicht mehr zukünftig. Tatsächlich ist die Hoffnung Blochs, die vielbeschworene, auf die durch Machen (und nur durch Machen) hergestellte Zukunft leer, denn „da vorne kommt niemand auf uns zu; in der Zukunft wartet niemand auf uns“. Weit entfernt ist solches Denken der Leere, die nur durch willentliche Planarbeit aufgefüllt werden könne, vom Denken ungeschuldeter, außerhalb aller Planung liegender Fruchtbarkeit. „Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ‘Gesetz’ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein“, formuliert Hannah Arendt gegen Bloch.9 „Freiheit, Gnade und Leben sind tief miteinander verwandt. Sie haben den gemeinsamen Nenner: ‘zwecklos, unverdient, unentgeltlich geschenkt zu sein’ (Ch. Péguy). [...] Deshalb schläft die Hoffnung, schläft das Kind, ohne den Schlaf als Brücke zwischen Arbeit und Arbeit einzuplanen.“10 Arbeit heißt Labor im Lateinischen. Das Kind lebt jenseits der Arbeit und stammt nicht aus Arbeit; es ist aus seinem Dasein heraus gerechtfertigt, unbeschadet seiner möglichen Versehrtheit. Diese ist unschuldiger Spiegel eigener, unangenehmer, unangenommener Versehrtheit, die wir scheuen, obwohl sie durchgängiges Kennzeichen der jetzigen Existenz ist. So wird gerade der Umgang mit dem Kind zum Maßstab einer Kultur: Kennt sie, übernimmt sie dessen „allgerechtfertigtes“ Dasein?

Im fulminanten Josephsroman von Thomas Mann spricht Jakob: „Denn der Zeugende ist nur Werkzeug der Schöpfung, blind, und weiß nicht, was er tut. Da wir den Joseph zeugten, die Rechte und ich, zeugten wir nicht ihn, sondern irgend etwas, und dass es Joseph wurde, das tat Gott. Zeugen ist nicht Schaffen, sondern es taucht nur Leben in Leben in blinder Lust; Er aber schafft.“ Und Eliezer antwortet: „Da du ihn zeugtest, kanntest du ihn nicht. Denn der Mensch zeugt nur, was er nicht kennt. Wollte er aber zeugen wissend und kennend, so wär’s Schaffen, und er vermäße sich, Gott zu sein.“

4 Vgl. Ferdinand Ulrich, Der Mensch als Anfang. Zur philosophischen Anthropologie des Kindes, Einsiedeln 1970. Vgl. Florian Pischl, „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...“ Ferdinand Ulrichs Philosophische Anthropologie der Kindheit im Gespräch mit Wertvorstellungen am Ende der Moderne, in: IKZ Communio 24 (1995), 50-60. 5 Emmanuel Levinas, Die Zeit und der Andere, übers. v. Ludwig Wenzler, Hamburg 1989, 62. 6 Montessori, Gott und das Kind (Anm. 3), 26f. 7 Hans Urs von Balthasar, Homo creatus est. Skizzen zur Theologie V, Einsiedeln 1986, 173. 8 Justinus Martyr, I. Apologia 61. 9 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, 243. 10 Ulrich, Der Mensch als Anfang (Anm. 4), 146. 11 Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Frankfurt/Main 1964, 482f.