Von der Hypothese der Einigkeit

Wie kann man als europäische Einheit kooperieren, wenn man sich nicht einig ist? Und nein, in Sachen Familienpolitik und Gesellschaftsentwicklung sind sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht einig. Trotz eines gemeinsamen Wertekanons, geprägt durch jüdisch-christliche Tradition, befinden sich die einzelnen Mitgliedsstaaten mehr oder auch weniger progressiv in einem fortschreitenden Wandel ihrer Beziehungs- und Familienformen. Nicht umsonst haben die „Gründerväter“ der EU, falls man das in genderbewegten Zeiten so überhaupt noch formulieren darf, das Feld der Familienpolitik aus dem Zuständigkeitsbereich der EU ausgeklammert und auf der Ebene der Nationalstaaten belassen.

Es stellt in Fragen der kulturellen Einheit Europas einen extremen Spagat dar, wie der Zusammenhalt in gemeinsamen Werten, also eine Gesamt-Europäische-Werteunion, bei gleichzeitiger Bewahrung und Berücksichtigung individueller Werte und Vorstellungen in den einzelnen Nationalstaaten gewährleistet werden kann.

Menschen und ihr Zusammenleben lassen sich nicht in einheitlichen DIN-Normen und in allgemeingültige Regeln oder Wertevorstellungen pressen, die sich dann grenzübergreifend oder gar diskussionslos von einem Land auf andere Länder übertragen ließen, auch wenn die neue EU-Parlamentspräsidentin Metsola genau das fordert.

Obwohl also nicht zuständig, hat sich die EU-Politik in Brüssel immer wieder mit familienpolitischen Themen befasst und versucht unter dem Deckmantel von Arbeitnehmerrechten oder auch unter dem Label der „Gleichstellungspolitik“, „Geschlechtergerechtigkeit“ und „Antidiskriminierung“ Einfluss auf nationale Zuständigkeiten zu nehmen. Besonders hervorzuheben ist hier der Fokus auf Frauenpolitik, Gleichstellungspolitik, die Durchsetzung von Gender Mainstreaming, von Minderheitenforderungen der LGBT-Lobbygruppen, die Legalisierung der sogenannten „Homoehe“, die Installation von Diversity-Konzepten in Politik und Wirtschaft oder auch der Kampf für Reproduktive Gesundheit im Sinne von Zugang zu legaler Abtreibung.

Wir müssen uns nicht einig werden

Ohne die Sicherstellung oder Bewahrung der Rechte diverser Minderheiten und Identitäten innerhalb der Europäischen Union in Frage stellen zu wollen, bleibt jedoch festzuhalten: Wir müssen uns gar nicht einig werden. Diese Themenkomplexe sind keine, die eine gesonderte europäische Haltung im Verhältnis zueinander oder im Gegensatz zum Rest der Welt erfordern. Es sind zudem keine Themen, die exklusiv innerhalb der EU diskutiert werden. Tatsächlich handelt es sich um Debatten, die in allen westlich geprägten Staaten mehr oder weniger intensiv stattfinden. Was die Diskurse in all diesen Themen und auch in allen Ländern jedoch eint, ist die imperative Prämisse, es sei möglich oder gar erstrebenswert, in all diesen Themenkomplexen zu einer einheitlichen Haltung und Politik zu gelangen. Das ist aber eher eine gewagte These als ein umsetzbares Unterfangen.

Halten wir zunächst fest: Die EU versucht derzeit gesellschaftspolitisch eine Homogenität an Meinungen und gesellschaftlichen Standards herzustellen, setzt dabei aber auf eine gemeinsame Zielvorstellung, die real nicht existiert. Nimmt man alleine die Frage der sogenannten „Homoehe“ oder der Legalisierung von „Abtreibung“ als zwei Beispiele, wird schnell klar, eine uniforme, europäische Linie ist derzeit nicht zu erzielen, wird als Ziel aber unausgesprochen vorausgesetzt.

Die Frau als Katalysator gesellschaftlichen Wandels

Die Moderne kann eine massive Veränderung der Gesellschaftsstrukturen aller Mitgliedsstaaten verzeichnen, wobei sich die Verläufe ähneln, das Ausmaß, gerade im demographischen Wandel sich nur unterscheidet. In allen Mitgliedsstaaten der EU hat vor allem die veränderte Rolle der Frau die gesellschaftliche Veränderung katalysiert. Die Berufstätigkeit der Frau, die damit einhergehende zunehmende Kinderlosigkeit der Frauen, daraus resultierend der Zusammenbruch von Groß- und Kleinfamilienstrukturen haben ihre Spuren hinterlassen. Die eingespielte Balance der klassischen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau ist aus dem Rhythmus geraten. Es haben sich neue Optionen für Frauen geöffnet und gefunden, die auch von vielen Frauen gerne genutzt werden. Weder die Gesellschaft noch die Männer, geschweige denn die Kinder der aktuellen Generation – und in Wirklichkeit nicht einmal die Frauen - haben bereits eine neue Balance gefunden. Der Aufbruch alter Beziehungsstrukturen hat Freiheiten eröffnet, aber noch keine neuen Sicherheiten gebracht.

Im Ergebnis kommt „Vater Staat“ in seiner Funktion als soziales Netz eine zunehmend große Bedeutung zu. Wo Kleinfamilie, Großfamilie, Nachbarschaft und somit der gesellschaftliche Zusammenhalt auseinanderbrechen, muss der Sozialstaat an dieselbe Stelle treten. Die massive Ausweitung von staatlicher Fremdbetreuung bei Kleinkindern und bei alten Menschen ist erstes sichtbares Zeichen. Diese Entwicklung verhilft auch alten sozialistischen und kommunistischen Gedankenillusionen zu einer neuen, paradoxen Renaissance mitten im Wohlstandswesten. Der sich kümmernde Nanny-Staat erfreut sich in Zeiten der Versingelung und Vereinsamung zunehmender Beliebtheit.