Was oder wer ist der Embryo?

Von der Antwort auf diese Frage, was eigentlich der Embryo ist, hängt alles Weitere ab. Man kann nur dann sagen, wie jemand zu behandeln ist, wenn man weiß, um wen es sich handelt. Es gibt nämlich einen fundamentalen Unterschied zwischen einem Objekt und einem Subjekt. Ein Objekt – ein Gebrauchsgegenstand – wird benutzt, während ein Subjekt nicht benutzt werden darf, weil es nicht dem Wesen und der Würde desselben entspricht. Ein ausrangierter Computer, der nicht mehr richtig funktioniert, wird entsorgt; mit einem Menschen darf man nicht so verfahren. Ein Computer kann ausgeschlachtet, verändert oder verbessert werden, der Umgang mit einem Mensch gestaltet sich grundsätzlich anders.

Es ist erstaunlich, dass es zwar öffentliche Debatten über die Abtreibung und sogar das Recht, dafür Werbung zu machen gibt, aber es finden keine öffentlichen Debatten über den Status des Embryo statt.5 Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, dass eine solche Diskussion einschneidende Konsequenzen nach sich ziehen würde und deswegen a priori vermieden wird. Diskussionen um Themen wie Abtreibung, In-vitro-Fertilisation, Präimplantationsdiagnostik, das Einfrieren von Embryonen, embryonale Stammzellforschung, etc., müssten ganz anders geführt werden, wenn dem Embryo als Subjekt eine intrinsische Würde zuerkannt würde.

Wie die weiteren Ausführungen verdeutlichen, gibt aber gerade die moderne Wissenschaft auf die Frage nach dem Status des Embryo Antwort. Denn der Beginn des menschlichen Lebens ist wissenschaftlich gut erforscht und untersucht. Es gibt eine große Fülle von Studien, die sich mit diesem Thema befassen. Die Frage, wann das menschliche Leben beginnt, ist nicht in erster Linie eine Frage des Glaubens, sondern eine Frage, die die Wissenschaft zu beantworten hat, und sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein neues menschliches Wesen bei der Empfängnis oder Befruchtung entsteht. Dies ist von grundlegender Bedeutung für den Umgang mit Embryonen sowie für eine ethische Bewertung. Hier einige Fakten:

  • Die Verschmelzung von Spermium und Eizelle ist der Beginn eines neuen Organismus.
  • Der Lebenszyklus von Säugetieren beginnt, wenn ein Spermium in eine Eizelle eindringt.
  • Befruchtung ist der Prozess, bei dem sich männliche und weibliche haploide Gameten (Spermien und Eizellen) vereinigen, sie bilden ein genetisch unterschiedliches Individuum.
  • Wie die Präimplantationsdiagnostik verdeutlicht,6 ist es möglich, die Haar- und Augenfarbe, Geschlecht und viele mehr bereits in den ersten Stadien des Embryos festzustellen. Es ist bereits alles angelegt, wenn auch noch nicht entwickelt.
  • Demzufolge hat der Gesetzgeber im sogenannten Embryonenschutzgesetzt (ESchG) von 1990 definiert: „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an.“7

Die Entwicklung des Menschen wird von Wissenschaftlern in einzelne Stufen (beispielsweise Trimester) eingeteilt, um diese einfacher und klarer beschreiben zu können, dies entspricht der wissenschaftlichen Methode. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass sich der Mensch nicht zum Menschen entwickelt, sondern dass er von der Befruchtung an Mensch ist. Embryologen wie Erich Blechschmidt haben dies anschaulich dokumentiert. Er macht deutlich, dass bei der Ontogenese (dem Prozess des organischen Wachstums eines individuellen Organismus) lebendige Gestaltungen entstehen, die mehr als nur messbare Formveränderungen sind, denn „Biologie ist nicht die Lehre vom Leben, sondern von Lebensäußerungen.“8 Diese Aussagen sind grundlegend, bedürfen aber einer weiteren Vertiefung.

Ontogenetisch kann sich nur entwickeln, was im Wesen schon angelegt ist. Daher lässt sich folgern: „Ein Mensch wird nicht Mensch, sondern ist Mensch und verhält sich schon von Anfang an als ein solcher. Und zwar in jeder Phase seiner Entwicklung von der Befruchtung an.“9 Die moderne Wissenschaft hat gezeigt, dass sich weder aus den Chromosomen noch aus den Genen die Entwicklung des Embryo erklären lässt, denn sie verhalten sich nicht dynamisch aktiv, sondern passiv. Daher ist Wachstum ein „von außen angeregter (exogener) Prozess. Eine Fülle von «Eingängen», die alle direkt oder indirekt den Stoffwechsel von außen treffen, löst das Wachstum aus.“10

Diese wissenschaftlichen Ausführungen sind sehr aufschlussreich und lassen Raum für jenes aktive Lebensprinzip, das die Kirche als Seele bezeichnet. In der Heiligen Schrift wird sie als das Leben des Menschen (vgl. Mt 16,25-26), als das Innerste im Menschen (vgl. Mt 26,38) und als das Wertvollste an ihm (vgl. Mt 10,28) bezeichnet. Dazu sagt der Katechismus der Katholischen Kirche: „‚Seele‘ benennt das geistige Lebensprinzip im Menschen.“11

Um einem heute lieb-gewordenen Vorurteil entgegenzutreten, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es dabei keineswegs um einen Dualismus geht, so als ob Leib und Seele sich als gegensätzliche Wirklichkeiten gegenüberstehen. Vielmehr vertritt die Kirche das Prinzip der Dualität, wonach Leib und Seele für den Menschen konstitutiv sind, so sehr, dass eine Trennung der Seele vom Leib zum Tod führt. Schon aus dieser Sicht wird deutlich, warum es eine Auferstehung von den Toten geben muss. Daher wurde in der Überlieferung der Kirche die Seele als die „Form“ des Leibes bezeichnet,12 die mit dem Leib eine substantielle Einheit bildet. Das kirchliche Dogma besagt, dass diese Seele unmittelbar von Gott geschaffen ist, sie ist unsterblich und geht daher „nicht zugrunde, wenn sie sich im Tod vom Leibe trennt, und sie wird sich bei der Auferstehung von neuem mit dem Leib vereinen.“13 In biblischer Sprache steht auch das Herz für das Innere des Menschen und kann als Synonym für Seele verstanden werden.

Wenn auch die Existenz der unsterblichen Seele nicht mit wissenschaftlichen Methoden bewiesen werden kann, was allein deswegen nicht geht, weil es sich um ein Geistprinzip handelt, das nicht unter das Mikroskop gelegt werden kann, so kann ihre Existenz auch nicht wissenschaftlich bestritten werden. Die Ontogenese legt das Gegenteil nahe.

Anton Ziegenaus spricht daher mit Recht von einem ganzheitlichen oder dualem Menschenbild, das die Kirche vertritt.14 Damit gelingt es ihr, die denkerischen Zusammenhänge zu erhellen und eine weiterführende Perspektive anzubieten, die für die Wissenschaft Platz lässt, aber zugleich einen weiteren Horizont aufzeigt, der die positivistische Wissenschaft überschreitet. Die Unsterblichkeit der Seele steht zugleich für die unantastbare Menschenwürde, die jedem Menschen zukommt.

An dieser Stelle sind die Ausführungen auf den Kern jener Problematik gestoßen, der allen bioethischen Debatten zugrunde liegt: das Menschenbild.15 Die Abkehr vom christlichen oder dualen Menschenbild hat nicht selten dazu geführt, den Menschen auf die Materie, Funktion, Qualität oder andere Attribute zu reduzieren. Doch entsteht eben auf diese Weise ein Dualismus, durch den der Mensch seiner Würde verlustig geht, die in der Folge nicht selten zum Spielball der Willkür wird. Hier zeigt sich eine höchst problematische Entwicklung, denn wenn unverhandelbare Prinzipien verhandelbar werden, dann ist die Würde des Menschen antastbar.16

Abschließend soll noch ein Blick auf die kirchliche Position gerichtet werden, die zum einen der wissenschaftlichen Entwicklung gerecht wird, zum anderen jene Anthropologie respektiert, die den Menschen als Menschen mit seiner unantastbaren Würde im Blick hat. Dabei genügt es, einen Blick auf die beiden wichtigsten Dokumente im Hinblick auf bioethische Themen zu werfen, die bereits zuvor Erwähnung gefunden haben: die Instruktionen Donum vitae (1987) und Dignitas personae(2008). Im Jahr 1987 war die Wissenschaft noch nicht in der Lage, ein abschließendes Urteil über den Status des Embryo zu fällen. So formulierte das Lehramt der Kirche vorsichtig: „Da er als Person behandelt werden muss, muss der Embryo im Maß des Möglichen wie jedes andere menschliche Wesen im Rahmen der medizinischen Betreuung auch in seiner Integrität verteidigt, versorgt und geheilt werden.“17 Im Jahr 2008, und in Anlehnung an den Fortschritt wissenschaftlicher Forschung zeigte sich, wie richtig diese Feststellung aus dem Jahr 1987 gewesen ist, die nun noch eindeutiger formuliert wird. Bereits in der ersten Nummer des Dokuments heißt es: „Jedem Menschen ist von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod die Würde einer Person zuzuerkennen.“18

Diese Aussage deckt sich – wie gesagt – mit den wissenschaftlichen Ergebnissen. Und dennoch nützt diese Erkenntnis wenig, wenn nicht ein Menschenbild vorausgesetzt wird, dass diese Fakten respektiert. Genau darin aber liegt das eigentliche Problem, denn in großen Teilen der Gesellschaft ist dies schlichtweg nicht mehr der Fall. Entgegen der Tatsachen und wissenschaftlichen Beweise wird es selbst gesetzlich erlaubt, Embryonen abzutreiben, sie nach gewissen Kriterien zu selektionieren (Präimplantationsdiganostik), oder mit ihnen zu experimentieren (vgl. Klonen, embryonale Stammzellforschung, Anwendung der Gen-Schere, etc.). Weil die Kirche Anwalt des Lebens ist und damit gerade das Leben der Wehrlosesten verteidigt, hatte Papst Johannes Paul II. die Praxis der Kirche bestätigt, indem er für die Abtreibung die Tatstrafe der Exkommunikation bekräftigte, die durch das Begehen der Straftat selbst in Kraft tritt.19

Wenn bekannt ist, wer der Embryo ist, dann folgt daraus, dass er auch entsprechend behandelt werden muss. Jede Person muss mit der Würde behandelt werden, die ihm zukommt, weil sie Person ist. Sobald eine Gesetzgebung beginnen sollte, das Leben von einigen als weniger (schützens-)wert als das von anderen zu bezeichnen, läuft sie Gefahr, historische Fehler zu wiederholen. Daher ist es höchst problematisch, wenn die Bundesregierung beschließt, dass das Werbeverbot für Abtreibungen aufzuheben ist.20 Damit wird menschliches Leben der Willkür preisgegeben, obwohl gerade die moderne Wissenschaft gute Argumente liefert, um sich dieser Praxis entgegenzustellen.

5 Eine Ausnahme dazu stellen folgende Sammelbände dar: Rainer Beckmann, Mechthild Löhr (Hg.), Der Status des Embryos. Medizin – Ethik – Recht, Würzburg 2003; Manfred Spieker u.a. (Hg.), Die Würde des Embryos. Ethische und rechtliche Probleme der Präimplantationsdiagnostik und der embryonalen Stammzellenforschung. (Veröffentlichungen der Joseph-Höffner-Gesellschaft Bd. 1) Paderborn 2012. 6 Vgl. Ralph Weimann, Bioethik in einer säkularisierten Gesellschaft. Ethische Probleme der PID, Paderborn 2015, 64-66. 7 Bundesministerium der Justiz, Embryonenschutzgesetz (ESchG), §8 (1), in: https://www.gesetze-im-internet.de/eschg/BJNR027460990.html[8.6.2022]. Im Hinblick auf die Frage nach Abtreibung und Gesetzgebung findet sich ein guter Überblick bei: Martin Rohnheimer, Abtreibung und Lebensschutz. Tötungsverbot und Recht auf Leben in der politischen und medizinischen Ethik, Paderborn 2004. Manfred Spieker bietet einen sehr guten Überblick über den Umgang der katholischen Kirche mit der Abtreibung in Deutschland. Vgl. Manfred Spieker, Kirche und Abtreibung in Deutschland. Ursachen und Verlauf eines Konflikts, Paderborn 2001. 8 Erich Blechschmidt, Wie beginnt das menschliche Leben. Vom Ei zum Embryo Befunde und Konsequenzen, Stein am Rhein 82008, 14. 9 Ebd., 31. 10 Ebd., 34. 11 KKK, 363. 12 Vgl. Konzil von Vienne, Konstitution Fidei catholicae, in: DH, 902. 13 KKK, 366. 14 Vgl. Anton Ziegenaus, Die Unsterblichkeit der Seele, in: Franz Breid (Hg.), Der Mensch als Gottes Ebenbild. Christliche Anthropologie, Buttenwiesen 2001, 99-122, hier bes. 101-109. 15 Vgl. Ralph Weimann, Bioethical Challenges at the End of Life. An Ethical Guide in Catholic Perspective, New York, 2022, 37-59. 16 Vgl. Ralph Weimann, Bioethik, 189-194. 17 DV, Teil 1, 1. 18 DP, 1. 19 Vgl. Johannes Paul II., Evangelium vitae, 62. 20 Vgl. Die Bundesregierung, Werbeverbot für Abtreibungen, 9.3.2022, in: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/paragraph-219a-2010222 [8.6.2022].