Lockende Andersheit

Platon entwarf im Symposion einen Kugelmenschen, der sich selbst genügt – wäre das nicht eigentlich das Urbild des Menschen gewesen? Als die Kugel zur Strafe für ihre Überheblichkeit von Zeus („wie ein weiches Ei mit einem Haar“) getrennt wird, zerfällt sie zu ihrem Unglück in zwei Hälften. Geschlecht ist Strafe bei den Griechen. Doch genau dasselbe wird in der Genesis als Glück gezeichnet: Eben die Zwei sind das Doppelbild des Unsichtbaren. Zwei Menschen erhalten das Antlitz des Einen aufgeprägt, zwei sollen fruchtbar sein, zwei sollen herrschen. In diesem alten Text wird die Frau aus dem Mann genommen, sie ruht also schon längst in ihm, ein einziger Leib umfasst zwei Herzschläge. Aber diese Einheit ist noch stumm, sie kann sich selbst nicht sehen, nicht austauschen… und so richtet sich der Blick dieses Einen auf anderes, auf die Tiere, ohne dieser Sehnsucht zu genügen. Daher wird die stumme Einheit gelöst, nicht zur Strafe, sondern zum Glück. Glück im Sinn des völlig Passenden, völlig Entsprechenden: „Fleisch von meinem Fleisch“, sagt der Mann zur Frau, da sie sich nun beide gegenüberstehen, endlich einander sichtbar. Sie werden nur im Blick der Verschiedenheit, des Abstands sie selbst. Genauer: Sie sind dasselbe, aber nicht das gleiche. Immer schon Eines, aber sich selbst nur im Anderen verstehbar. Im deutschen Wortstamm sind Liebe und Leib und Leben verwandt. Der lebendige Leib liebt den anderen lebendigen Leib und schafft darin selbst wieder Leben. Die Frau beseligt den Mann zu seinem Leben, der Mann beseligt die Frau zu ihrem Leben. „Eva“ ist kein Eigenname, sondern „chawwa“, wie Adam seine Frau nennt, heißt einfach Leben. Leben als fruchtbares. Die Frau wird nur am Mann zur Frau und dadurch zur Mutter; der Mann wird nur an der Frau zum Mann und dadurch zum Vater. Sie geben einander, was sie allein sich nie hätten geben können. Selbigwerden am anderen heißt es in philosophischer Sprache.

Die alte Geschichte enthält noch einen weiteren Schlüssel. Die Frau löst sich nicht selbst aus dem Einen, Ganzen, sie wird gelöst. Sie wird dem Mann göttlich zugeführt, sie ist letzte Gabe göttlicher Kraft an ihn wie er damit umgekehrt an sie; beider Lösung, beider Zusammenführen ist das ultimative Ereignis der Schöpfung. Es ist Tun eines Gottes. Tun eines Ursprungs, der nichts „noch Besseres“ kennt. Er setzt nicht Vorrang des einen vor dem anderen, er setzt aber den Gabecharakter der Frau an den Mann.

Dies nimmt dem Unterschied seine Schärfe, seine Macht der Zerstörung des anderen. Dass Zerstörung möglich und geschichtlich wirksam ist, steht auf dem Blatt einer Schuld, die hier nicht zu behandeln ist. Aber zu dieser Schuld gehört auch die heutige Theorie, durch das Geschlecht unfrei zu sein.

Was die Genesis erzählt, ist sinnkonstitutiv. Die – gendertheoretisch völlig ausgesparte – Frage nach dem schöpferisch-göttlichen Sinn von Mann und Frau beantwortet sich so: Sie sind zu ihrem eigenen Glück verschieden – leibhaft, seelisch, geistig. Diese Vision zeigt gerade zum fremden Geschlecht eine göttliche Spannung, die Lebendigkeit des Andersseins und die Notwendigkeit wunderbarer Asymmetrie. Schöpferisches Anderssein im gemeinsam göttlichen Ursprung – daran verblassen alle Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen.

Was die Genesis erzählt, ist sinnkonstitutiv. Die – gendertheoretisch völlig ausgesparte – Frage nach dem schöpferisch-göttlichen Sinn von Mann und Frau beantwortet sich so: Sie sind zu ihrem eigenen Glück verschieden – leibhaft, seelisch, geistig. Diese Vision zeigt gerade zum fremden Geschlecht eine göttliche Spannung, die Lebendigkeit des Andersseins und die Notwendigkeit wunderbarer Asymmetrie. Schöpferisches Anderssein im gemeinsam göttlichen Ursprung – daran verblassen alle Einebnungen, Dekonstruktionen, Neutralisierungen.

So kommt in der Liebe das andere Geschlecht entscheidend ins Spiel. Das Hinausgehen aus sich ist unvergleichlich fordernder, wenn es nicht nur auf ein anderes Ich, sondern auf einen anderen Leib trifft – auf unergründliche Andersheit, unergründliche Entzogenheit, manifest bis ins Leibliche, Psychische, Geistige hinein. Diesen Unterschied auszuhalten, vielmehr sich in ihn hineinzubegeben und hineinzuverlieren, erfordert mehr Mut als sich dem gleichen Geschlecht auszusetzen. Vielleicht ist wirklich nur die Liebe im Sinne von Tollkühnheit fähig, sich überhaupt einzulassen auf diese wirkliche Andersheit und sich nicht nur selbst zu begegnen. Wieviel Angst steckt in der Verweigerung des anderen Geschlechts?

Dieses andere Geschlecht ist nicht zu vereinnahmen, nicht auf sich selbst zurückzuspiegeln: Frau ist bleibendes Geheimnis für den Mann und umgekehrt. Der Mann wird nur an der Frau zum Mann und Vater, die Frau nur am Mann zur Frau und Mutter. Wer diesem zutiefst Anderen ausweicht, weicht dem eigenen Leben aus, auch der eigenen Kraft zum elterlichen Dasein, zum älteren Du.