Der Referent, Prof. Dr. Stephan Kampowski, ist ordentlicher Professor für philosophische Anthropologie am Päpstlichen Theologischen Institut „Johannes Paul II.“ für Ehe- und Familienwissenschaften in Rom. Seit 2012 ist er auch Professor an der philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität des Hl. Thomas von Aquin (Angelicum) in Rom.

Schöpfungsordnung und natürliche Familie

In seinen von 1979 bis 1984 gehaltenen Mittwochskatechesen behandelte der heilige Papst Johannes Paul II. die „menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan.”1 Die Ehe, so führt er darin aus, wurde vom Schöpfer eingesetzt und „hat einen unauflöslichen Charakter, wie es der ehelichen Einheit von Mann und Frau nach Gottes Plan entspricht.”2 Indem er die Worte Christi über den Anfang betrachtet, möchte er eine „Theologie des Leibes” entwickeln,3 „von der sich die echt christliche Sicht der Ehe und Familie ergibt”. Johannes Paul II. spricht hier in einem Atemzug von „Ehe” und von „Familie”, sowie von „Ehe” und „Fortpflanzung”4 und führt innerhalb seiner Katechesen aus, dass der menschliche Leib sowohl eine bräutliche5 als auch eine generative Bedeutung habe, die so weit gehe, dass „die Männlichkeit … die Bedeutung der Vaterschaft und die Weiblichkeit die der Mutterschaft [in sich birgt].”6 Von der Familie als Plan Gottes zu sprechen bedeutet somit, die Familie als in der Schöpfungsordnung verankert zu sehen. Die Schöpfungsordnung wiederum ist die Ordnung der Natur.

Im Grundsatz entspricht das, was Johannes Paul II. in seinen Mittwochskatechesen darlegt, nicht nur der christlichen, sondern der gesamten abendländischen Tradition, einschließlich des römischen und griechischen Altertums: Es gibt einen Zusammenschluss von Mann und Frau im Hinblick auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommen7. Einer so gearteten Verbindung gab man den noch bis vor kurzem dafür exklusiv genutzten Namen „Ehe“. Eine so verstandene Ehe war wiederum selbstverständlich die Grundlage der Familie als Netzwerk von Verwandtschaftsbeziehungen, wie etwa Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester, Onkel, Tante, Neffe, Nichte, Cousin, Cousine. In genannten Fällen sprechen wir von Blutsverwandtschaft, entweder in der linearen oder der kollateralen Linie. Aber es gibt auch Verwandtschaftsbeziehungen, die nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern auf einem unwiderruflichen Versprechen basieren, einem Versprechen wie den Rechtsakt der Adoption und natürlich das Eheversprechen selbst, das die Eheleute zu Verwandten macht und ihre jeweiligen Herkunftsfamilien in die sogenannte Beziehung der Affinität setzt, wie etwa Schwager, Schwägerin, Schwiegervater, Schwiegermutter …

Die Erfahrung der Ehe und Familie in diesem Sinne ist so tief in der Menschheit verankert, dass man sich fragen muss, wie es dazu kommen konnte, dass eine derart fundamentale Wirklichkeit in vielen Gesellschaften der heutigen Zeit nicht mehr in ihrem Wesen wahrgenommen wird und die Gesetzgebung und Rechtsprechung willkürlich die Namen „Ehe“ und „Familie“ anderen Beziehungsarten gibt, die an sich nichts mit Ehe und Familie im überlieferten Wortgebrauch zu tun haben. Stellen wir uns vor, der Deutsche Bundestag würde ein Gesetz erlassen, in dem es heißt, der Gebrauch des Namens „Brot“ sei großzügig auszuweiten und fortan auch auf die ehemals mit „Stein“ bezeichnete Wirklichkeit anzuwenden. Und es ist wahr: Brot kann verhärten. Es mag gar versteinern. Aber von seinem ursprünglichen Wesen her hat es einen Nährwert; es ist überlebenswichtig. Brot und Steine sind von komplett anderer Art, so dass dann die erste Frage gar nicht wäre, ob es Brot nach dem Plan Gottes gebe, sondern wie es dazu kam, dass die deutschen Volksvertreter und mit ihnen weite Teile der Gesellschaft nicht mehr in der Lage sind, den Unterschied zwischen Brot und Steinen zu erkennen. Dies ist die Frage, mit der wir uns im Folgenden beschäftigen wollen.

1 Johannes Paul II., Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Eine Theologie des Leibes, in: Norbert und Renate Martin (Hg.), Kisslegg 2011, 701: „Die Reihe der Katechesen, die ich vor mehr als vier Jahren begonnen habe und heute abschließe, kann man unter dem Titel »Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan« … zusammenfassen” (133. Katechese vom 28. November 1984). 2 Ebd., 434 (73. Katechese vom 10. März 1982). 3 Ebd., 190 (23. Katechese vom 2. April 1980). 4 Ebd. 5 Ebd., 145 (14. Katechese vom 9. Januar 1980). 6 Ebd., 187 (22. Katechese vom 26. März 1980), Übersetzung korrigiert. 7 So zum Beispiel schon bei Aristoteles: „Die Gemeinschaft, die in Übereinstimmung mit der Natur zur Befriedigung der Alltagsbedürfnisse gebildet ist, ist der Haushalt (= die Familie).” Aristoteles, Politik, Hamburg 2012, Buch I, Kapitel 2, 1252bd. Dieser Haushalt (der oikos: die Familie) kommt für ihn in erster Linie durch den Zusammenschluss von Mann und Frau zwecks Zeugung von Nachkommenschaft und in zweiter Linie durch die Beziehung von Herren und Sklaven zustande (ebd., I, 2, 1252a). Sicher würden wir heute nicht mehr meinen, die Beziehung von Herren und Sklaven gehöre natürlicherweise zum Familienbegriff, selbst wenn sich unser Wort „Familie” vom lateinischen „famulus” (Hausangestellter, Diener) ableitet. Aber schon Aristoteles selbst konnte an funktionale Äquivalente für die Rolle des Sklaven im Haushalt denken – den Stier, zum Beispiel (ebd., I, 2, 1252b). Dagegen ist es für ihn alternativlos und wesentlich für die Bildung eines oikos, dass sich zuallererst „diejenigen als Paar zusammenschließen, die nicht ohne einander leben können, das Weibliche und das Männliche zum Zwecke der Fortpflanzung” (ebd. I, 2, 1252a).

Foto: Prof. Dr. Stephan Kampowski © Privat