Gleichgeschlechtliche Liebe als neues Paradigma der Liebe

Die „Ehe für alle” ist nur die letzte Konsequenz eines Eheverständnisses, das sich im westlichen Denken seit der sexuellen Revolution immer weiter ausgebreitet hat und dort immer tiefer verankert ist. Das Hauptmerkmal der sexuellen Revolution ist die grundlegende Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit. Ehepartner zu sein bedeutet heute in erster Linie, gesellschaftlich anerkannte Geschlechtspartner zu sein, die eine gewisse Verbindlichkeit miteinander eingegangen sind. Auf begrifflicher Ebene werden dabei Ehemann- und Ehefrausein von Vater- und Muttersein komplett geschieden. Kinder werden heute eher zufällig in die eheliche oder partnerschaftliche Beziehung hineingeboren. Sie resultieren dann entweder aus einem „Unfall” – die Kontrazeptiva haben nicht funktioniert – oder aus einer spezifischen, besonderen Entscheidung der Eheleute oder zumindest eines Elternteils, Eltern werden zu wollen.11 Auch nach der eventuellen Geburt eines Kindes definiert sich die Beziehung dann nicht in erster Linie durch das gemeinsame Vater- und Muttersein, sondern durch das gemeinsame Geschlechtspartnersein.

Man kann aber nur Geschlechtspartner sein ohne daran zu denken, möglicherweise Vater und Mutter der gemeinsamen Kinder zu werden, wenn der Geschlechtsakt als ursprünglich steril gedacht wird. Hier ist das Resultat der sexuellen Revolution: Mit ihrer Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit hat sie den Sex im Denken einer ganzen Generation steril gemacht. Die „Ehe für alle” hat in Deutschland so wenig Aufsehen erregt, weil der homosexuelle – das heißt der sterile – Sex mittlerweile zum Paradigma der Sexualität geworden ist. Schon in den 1980er Jahren schrieb italienische Philosoph Augusto del Noce in einem Brief an Rodolfo Quadrelli diese bewegenden Zeilen: „Der heute gängige Nihilismus …[hat] sein Symbol in der Homosexualität … (in der Tat kann man sagen, dass er die Liebe immer homosexuell versteht, auch wenn er die Beziehung zwischen Mann und Frau aufrechterhält)”12.

Können solche Arten steriler Verbindungen – ob sie nun aus Mann und Frau, aus Mann und Mann oder Frau und Frau oder auch aus mehr als zwei Partnern besteht – dem Plan Gottes entsprechen? Papst Franziskus macht geltend, dass Menschen zwar in den verschiedenartigsten Verbindungen die Erfahrung eines gewissen Halts machen können, dass aber dennoch „die eheähnlichen Gemeinschaften oder die Partnerschaften zwischen Personen gleichen Geschlechts … nicht einfach mit der Ehe gleichgestellt werden” können. Er fährt dann fort und führt ganz trocken einen scheinbar recht pragmatischen Grund für diese Aussage an, der uns in seiner Dringlichkeit jedoch aufhorchen lassen sollte: „Keine widerrufliche oder der Weitergabe des Lebens verschlossene Vereinigung sichert uns die Zukunft der Gesellschaft”14. Hier sei zu betonen, dass natürlich nicht nur die Zukunft der Zivilgesellschaft, sondern auch die der societas ecclesiae, der kirchlichen Gesellschaft auf dem Spiel steht. Der Plan Gottes, so möchte man meinen, sieht vor, dass sowohl das zivile als auch das kirchliche Gemeinwesen fortfahren zu existieren. Der Unterschied zwischen Verbindungen, die im Dienst des Gemeinwohls die Zukunft der Gesellschaft garantieren, und Verbindungen, die von ihrer Natur her in diesem Sinne nichts dazu beitragen, ist qualitativ, wesentlich. Es muss im Interesse der zivilen und kirchlichen Autorität sein, dass sich die Bürger und Gläubigen dieses wesentlichen Unterschieds wieder bewusst werden.

11 Vgl. Livio Melina, Für eine Kultur der Familie. Die Sprache der Liebe, Altötting 2015, 213: „Für den Menschen unserer hoch entwickelten westlichen Gesellschaft nimmt die Zeugung eines Kindes immer mehr die Form einer Entscheidung an, zu der schwerwiegende Überlegungen gehören. Früher war es selbstverständlich, dass diejenigen, die heirateten, auch Kinder haben würden. Vater- und Mutterschaft wurden als natürliche Aufgabe betrachtet, die man zusammen mit vielen anderen Pflichten, die zum Leben gehören, übernahm. Die Fortpflanzung war kein Wahlakt, sondern die natürliche Folge des Ehelebens.”

12 Augusto del Noce, Lettera a Rodolfo Quadrelli, 8. Januar 1984, zitiert nach M. Tringali, Augusto Del Noce interprete del Novecento, Aosta 1997, 142: “Il nichilismo oggi corrente è il nichilismo gaio, nei due sensi che è senza inquietudine […] e che ha il suo simbolo nell’omosessualità (si può infatti dire che intende l’amore sempre omosessualmente, anche quando mantiene il rapporto uomo-donna)”.

13 Vgl. Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, „Empfängnisverhütung und Keuschheit,” in: Roland Süßmuth (Hg.), Empfängnisverhütung. Fakten, Hintergründe, Zusammenhänge, Holzgerlingen 2000, 1020: „Aber wenn antikonzeptioneller Geschlechtsverkehr in Ordnung ist, dann wird es unmöglich, zum Beispiel homosexuellen Verkehr für falsch zu halten. Damit sage ich nicht: Wer Verhütung für gut hält, wird diese anderen Dinge tun. Ich meine nur, man hat dann keine stichhaltigen Gründe mehr gegen diese Dinge.”

14 Franziskus, Nachsynodales Schreiben Amoris laetitia, 19. 3. 2016, in: https://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia.html [7.6.2022], 52.