Berlin

Weder rechtsextrem noch konservativ

Wie ticken die AfD-Spitzenkandidaten Alice Weidel und Tino Chrupalla weltanschaulich? Eine Analyse.
AfD stellt ihr Spitzenduo für die Bundestagswahl vor
Foto: Kay Nietfeld (dpa) | Ziehen gemeinsam als Spitzenduo für die AfD in den Bundestag: Tino Chrupalla (l.) und Alice Weidel (r.)

Zum Sieg des Ex-Flügels und zur Schlappe von Co-Parteichef Jörg Meuthen hatten die Medien die Wahl von Alice Weidel und Tino Chrupalla deklariert. Am 25. Mai hatten sich 71 Prozent der AfD-Mitglieder für das Duo als Spitzenkandidaten im Bundestagswahlkampf ausgesprochen. Trotz kolportierter Führungsschwäche in der Fraktion setzt die AfD bei Weidel demnach auf die Devise „Keine Experimente!“. Chrupalla erschien nach seiner Wahl zum Bundessprecher im Jahr 2019 als logischer Verbündeter. Dass der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland nach dem Sieg Weidels und Chrupallas anmerkte, Meuthen müsse sich die Niederlage des von ihm unterstützten Teams aus Joana Cotar und Joachim Wundrak „persönlich anrechnen lassen“, schürt berechtigte Zweifel, ob das Ringen innerhalb der Partei ein Ende hat. Versöhnung und Einigkeit hören sich anders an.

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Keine bloße Staffage des "Flügels"

Dabei wäre es verkürzt, Weidel und Chrupalla als bloße Staffage des offiziell aufgelösten Flügels zu interpretieren. Weidel, die von der Konrad-Adenauer-Stiftung ein Stipendium für ihre Promotion erhielt, lange der Hayek-Gesellschaft angehörte und mit einer sri-lankanischen Filmproduzentin zwei Söhne in einer eingetragenen Partnerschaft großzieht, entspricht kaum dem Ideal der rechtsextremen Avantgarde. Zwar hat sich Weidel dem rechten Rand zugewandt, etwa als sie die Sommerakademie von Götz Kubitschek in Schnellroda als Referentin besuchte. Ihr Anliegen dürfte jedoch eher parteitaktischer denn ideologischer Umstände geschuldet gewesen sein, um sich der Unterstützung radikalerer Anhänger zu versichern, auf die Meuthen der Imagepflege wegen nicht zugreifen kann. So ist auch zu verstehen, weshalb Weidel im Jahr 2019 beteuerte, dass sie eine „Lernkurve“ im Umgang mit Björn Höcke hingelegt habe – unter der Bundessprecherin Frauke Petry hatte sie noch einen Ausschluss Höckes aus der Partei gefordert.

Diese ideologische Flexibilität Weidels – man mag sie als Pragmatismus oder Opportunismus interpretieren – führt zu einer widersprüchlichen Haltung in fundamentalen Fragen. Die AfD, die sich selbst dem traditionellen Familienbild verpflichtet sieht, zieht mit einem rhetorischen Schlachtross ins Feld, das daheim einen anderen Lebensentwurf zelebriert. „Familie ist dort, wo Kinder sind“, sagt Weidel 2017, als sie auf ihre persönliche Lebenssituation angesprochen wird. Im Wahlprogramm der AfD liest sich das etwas anders: „Die AfD bekennt sich zur Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft. Sie besteht aus Vater, Mutter und Kindern.“ Nun ist nicht ausgeschlossen, dass eine Spitzenkandidatin das Programm einer Partei über ihre persönlichen Ansichten stellt. Die Frage bleibt, wie glaubwürdig eine solche Konstellation für den Wähler ist, wenn ein Spitzenkandidat das eine predigt, jedoch das andere lebt.

Weidel hat sich zum christlichen Glauben nie geäußert

Es verwundert daher nicht, dass Weidel sich aus Fragen, die den erweiterten Bereich der Familienpolitik betreffen – so etwa auch den Lebensschutz – eher zurückhält. Zwar prangerte sie den Vorschlag der Jusos an, Abtreibungen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat zu legalisieren. Sie symbolisiert jedoch vor allem die Eckpunkte des AfD-Wahlprogramms: Asyl- und Flüchtlingspolitik, Zukunft des Euros und der Europäischen Union, Wirtschaft und Finanzen, sowie in jüngster Zeit der Umgang mit der Covid-Pandemie. Die einstige Analystin von Goldmann Sachs hat im Bundestag als Fraktionsvorsitzende den Ruf einer scharfen Rednerin erworben. Auch außerhalb des Plenums fiel Weidel immer wieder mit ungezügelten Attacken auf. Die Kirchen kritisierte sie kurz vor dem Weihnachtsfest 2017 dafür, die gleiche unrühmliche Rolle in der Bundesrepublik zu spielen, „die sie auch im Dritten Reich gespielt haben“. Sie seien „durch und durch politisiert“. Weidel spielte damit insbesondere auf die Unterstützung der deutschen Flüchtlingspolitik durch beide Kirchen an. Zugleich betonte Weidel, die AfD sei die „einzige christliche Partei“ Deutschlands, die es noch gebe. Während Weidel immer wieder vor den Gefahren des Islams warnt, hat sie sich zum christlichen Glauben nie geäußert.  Auch hier fungiert Weidel als Sprachrohr des AfD-Programms, das die Worte „Christentum“ oder „christlich“ nur dreimal im historischen Kontext nennt, den Begriff „Freiheit“ und dessen Abwandlungen dagegen an 67 Stellen.

Dagegen kann Tino Chrupalla als Malermeister und dreifacher Familienvater aus dem Osten schon eher als Leitbild des bodenständigen Mittelständlers aus AfD-Kreisen gelten. Handwerk, Soziale Marktwirtschaft, Energiepolitik und Einwanderung sind Schwerpunkte, die nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Länder- und Kommunalebene in jenen Wählerschichten Gewicht haben, die die AfD anvisiert. Wie Weidel kann Chrupalla als Aushängeschild bürgerlicher und mittelständischer Interessen fungieren, um die radikalen Auswüchse innerhalb der AfD zu übertünchen. Dabei agierte der Co-Vorsitzende nicht immer glücklich, wenn nicht gar fahrlässig. Von Andreas Kalbitz, dem die Partei die Mitgliedschaft wegen seiner rechtsextremen Vergangenheit entzogen hatte, wollte sich Chrupalla nicht eindeutig trennen. Den AfD-Pressesprecher Christian Lüth kritisierte Chrupalla erst, als Lüths Aussagen über die „Vergasung“ von Migranten öffentlich wurden – obwohl Lüths Umtriebe schon früher bekannt waren. Ob hinter diesen Fehlern mangelnde Konsequenz oder machtpolitischer Opportunismus steckte, ist bis heute nicht geklärt. Der Umgang mit den radikalen Kräften ähnelt dem Weidels: tolerieren, solange es geht, wenn nicht die eigene Position gefährdet wird.

Ideologisch ungefestigt, ja geradezu relativistisch liberal

Außerhalb der Mittelstandsthemen zeigt sich Chrupalla ideologisch ungefestigt, ja geradezu relativistisch liberal. Kurz nach seiner Wahl im Dezember 2019 sorgte der Bundessprecher für Irritationen, als er auf die Frage nach dem Schutz des ungeborenen Lebens antwortete: „Das sind Dinge, die man natürlich diskutieren muss. Ich denke, das ist schon ein Stück weit Selbstbestimmung.“ Die Lebensrechtler in der AfD versuchten den Schaden schnellstmöglich mit einer Richtigstellung zu korrigieren. Die Unbeholfenheit auf dem Feld stellte Chrupalla kurz nach dem 25. Mai neuerlich unter Beweis. In einem Radiointerview fragte der Moderator, ob Alice Weidel als lesbische Frau mit zwei adoptierten Söhnen dem Leitbild der AfD entspräche. Chrupalla sagte darauf, dass das eine das andere nicht ausschließe. „Wir sind als Partei ganz klar der Auffassung, dass Mutter-Vater-Kind geschützt gehört, und das gilt natürlich für gleichgeschlechtliche Ehepartner genauso.“ Den Widerspruch mag Chrupalla in dieser Klarstellung nicht sehen – vielleicht auch, weil er mögliche bürgerliche Wähler nicht vergraulen will. Das klare Bekenntnis zu einer Norm fehlt dafür wie bei Weidel.

Beide Kandidaten stehen damit für eine Ideologie, die sich nicht auf metaphysische Begründungen stützt, wie sie konservative Bewegungen und Parteien historisch auszeichnet. Nützlichkeitserwägungen oder rechtspositivistische Verweise auf das Grundgesetz prägen die Rechtfertigungslinien des AfD-Programms.

Beide Kandidaten vertreten als Aushängeschilder diese Politik, manchmal populistisch aufgeladen, manchmal in einer dezidiert nationalliberalen Tradition, die weder Naturgesetze noch christliches Wertegerüst noch abendländische Kultur als Fundament anerkennt – das Wort „Abendland“, das im AfD-Wahlprogramm 2017 noch als Gegensatz zur islamischen Welt verwendet wurde, ist spurlos aus dem 2021er Programm verschwunden. Weidel und Chrupalla kann man daher nicht als rechtsextrem brandmarken. Konservativ sind sie deswegen allerdings auch nicht.

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Marie-Sophie Schnitter Alice Weidel

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