Porträt

Wagenknechts faustischer Pakt

Nonkonformismus, radikales Denken und die Kunst der Inszenierung: Das Leitbild für Sahra Wagenknechts politisches Denken ist "Faust".
Bewegung "Aufstehen" wird vorgestellt
Foto: Kay Nietfeld (dpa) | Sahra Wagenknecht hebt sie vom Politiker-Durchschnitt ab. Sie hat ihr eigenes Rollen-Modell geschaffen und vor allem: Sie vertritt ihre Meinung ohne Rücksicht auf den gerade vorherrschenden Zeitgeist.

Das wird nichts mehr: Das Tischtuch zwischen Sahra Wagenknecht und der Linkspartei ist endgültig zerschnitten. Vom „Niedergang der einstigen Friedenspartei“ spricht die 53-Jährige. Und hat nun auch klargestellt, dass sie eine erneute Kandidatur für die Partei ausschließt. Für die Linke kann das gravierende Folgen nach sich ziehen, ist sie doch ihr bekanntestes Gesicht. Wagenknecht war mit ihrer Dauerpräsenz in den Talkshows so etwas wie ihr Anker in der Öffentlichkeit. Ohne sie wird es schwierig. Ob Dietmar Bartsch oder Janine Wissler, sie alle können im Vergleich zu Wagenknecht nicht mithalten – was ihr Charisma, aber vor allem auch ihren Unterhaltungswert angeht – ein Kriterium, das in der Mediengesellschaft nicht zu unterschätzen ist. Die Linkspartei kann sich also auf düstere Zeiten einstellen.

Getrennt - aber nicht heimatlos

Ganz anders sieht es aber bei Sahra Wagenknecht selbst aus: Sie ist durch diesen Trennungsschritt keineswegs politisch heimatlos geworden. Sie verfügt über so etwas wie eine eigene weltanschauliche Basis, die ihr, weil sie noch nie deckungsgleich mit dem Programm ihrer Partei war, schon bisher Unabhängigkeit verschafft hat. Wagenknecht ist nicht nur bloße Politik-Handwerkerin, keine Partei-Funktionärin, Wagenknecht versteht sich als politische Denkerin.

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Natürlich strebt auch sie nach Macht, aber ihr Motor sind politische Ideen. Ganz gleich, wie man diese Ideen bewerten mag, die Tatsache, dass sie Politik als ein letztlich philosophisches Geschäft begreift und gleichzeitig in der Lage ist, ihre Ideen rhetorisch eloquent und konfrontativ zu vertreten, hebt sie vom Politiker-Durchschnitt ab. Sahra Wagenknecht hat ihr eigenes Rollen-Modell geschaffen. Seit ihren ersten Schritten in der Politik Anfang der 90er Jahre hat Wagenknecht gezielt an ihrem öffentlichen Bild gearbeitet.

Wagenknecht - die neue Rosa Luxemburg

Dabei ging es von Beginn an nie nur um das Was, also den Inhalt ihrer Politik, sondern immer im gleichen Maße um das Wie. Selbst in ihrer Zeit bei der „Kommunistischen Plattform“ gelang es ihren politischen Gegnern nicht, sie zum kommunistischen Schreckgespenst zu stilisieren, stattdessen schwärmten die Boulevardmedien von einer neuen Rosa Luxemburg. Ihre Karriere in den Talkshows begann. Wagenknecht sei zur Pop-Ikone der „Berliner Republik“ geworden, wie der Publizist Wolfram Weimer, sicherlich nicht verdächtig, mit Wagenknechts Positionen zu sympathisieren, kürzlich zu Recht festgestellt hat.

Drei Leitmotive ziehen sich durch Sahra Wagenknechts politisches Leben: Da ist zunächst einmal ihr Nonkonformismus. Er ist so ausgeprägt, dass er sie in eine letztlich paradoxe Situation geführt hat: Sie vertritt als Nonkonformistin eine kollektivistische Ideologie. In der DDR hat sie Probleme in der FDJ, kritisiert die militärische Vorausbildung von Schülern, kann nicht studieren. Und dann tritt sie 1989 – gegen den Trend – in die SED ein. Als Grund gibt sie an, dass sie durch die Lektüre erst von Goethe, dann Hegel und schließlich Marx zur überzeugten Sozialistin geworden sei.

Leitmotiv: sich absetzen vom gesellschaftlichen Mainstream

Sie habe eine reformierte DDR gewollt. Ihre Position sei also nicht die Folge ihrer Erziehung im SED-Staat gewesen, sondern das Ergebnis ihrer eigenen Auseinandersetzung mit den Denkern. Hier wird das zweite Leitmotiv erkennbar: Der Wille, konsequent zu denken, und ihre Erkenntnisse, ohne Rücksicht auf den gerade vorherrschenden Zeitgeist, zu vertreten. Sie ist stolz auf ihr Philosophiestudium. Gerne erzählt Wagenknecht, dass sie als junge Frau davon geträumt habe, so wie Hegel ein eigenes philosophisches System zu entwickeln. Und dies – das dritte Leitmotiv – ist stets verbunden mit einer Inszenierung: Nichts braucht Wagenknecht mehr als einen gesellschaftlichen Mainstream, um sich von diesem dann öffentlichkeitswirksam abzusetzen.

Dieser Effekt verleiht ihr den Habitus der Unzeitgemäßen. In dieser Rolle kann Wagenknecht die beiden anderen Faktoren – Nonkonformität und radikales Denken – zusammenführen und für ihren politischen Aufstieg fruchtbar machen. Krisenzeiten sind für sie goldene Zeiten. Denn in der Krise verschärft sich das gesellschaftliche Debattenklima, das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem politischen Establishment und dessen Lösungskompetenz wächst, die Sehnsucht nach einer anderen Meinung, nach einem Repräsentanten der „schweigenden Mehrheit“ steigt. Diese Lücke hat Sahra Wagenknecht sowohl in der Flüchtlingskrise, dann während der Pandemie und nun schließlich mit ihrem „Manifest für den Frieden“ gefüllt. Sie hat einen faustischen Pakt mit der Krise geschlossen.

Goethes Faust ist Wagenknechts Leitbild

Am Anfang von Sahra Wagenknechts intellektueller Entwicklung steht nicht Karl Marx, sondern Goethe. Faust ist das Leitbild für ihr politisches Denken. In einem Interviewbuch aus dem Jahr 2017, in dem sie der Journalist Florian Rötzer zu ihrer Biographie befragt („Couragiert gegen den Strom. Über Goethe, die Macht und die Zukunft“, Westend), beschreibt Wagenknecht , wie die Lektüre von „Faust“ bei ihr als Schülerin der „Auslöser“ dafür gewesen sei, über gesellschaftliche Fragen nachzudenken. „Philosophisch und zugleich zutiefst politisch ist bei Faust schon die Ausgangslage“, erläutert sie in dem Gespräch. „Mephisto, der stets Verneinende, steht im Grunde für die pessimistische Weltsicht, also für die Devise: Die Menschheit schafft es nie, die Menschen werden sich immer nur gegenseitig bekämpfen und zerstören, es wird nie zu etwas Gutem kommen.

Mephisto ist trotzdem eine faszinierende Figur, so wie diese pessimistische Weltsicht ja auch eine gewisse Faszination auf viele ausübt. Vor allem ist sie sehr bequem: Man kann sich zurücklehnen und sich aus der Verantwortung stehlen, wenn man davon ausgeht, dass sich sowieso nichts zum Guten wenden lässt. Dann ist es auch legitim, einfach nur den eigenen Vorteil zu suchen und sich um die Probleme anderer, um Not und Armut, nicht weiter zu bekümmern.“

Eingreifen, tätig werden, verändern

Dieser mephistophelischen Perspektive stellt Wagenknecht Faust gegenüber: „Neben, in gewisser Weise auch gegen Mephisto steht aber Faust als derjenige, der wirklich etwas will, der wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, der eingreifen, tätig werden, verändern will. Damit konnte ich mich sofort identifizieren. Schon der erste Monolog von Faust lebt von Gefühlen, die mir trotz der fremden, der mittelalterlichen Umgebung völlig vertraut waren: Wie da nachts einer über Büchern sitzt, und der Mond scheint durchs Fenster, und er grübelt und brütet über den Sinn des Lebens und die großen Zusammenhänge der Welt. Welche von den vielen Lehren und Theorien, die diese Bücher enthalten, sind leer und tot, welche zukunftsträchtig und lebendig? Wie kann man das unterscheiden?“

Und schließlich liefert Wagenknecht auch noch eine positive Gesamtdeutung des Werkes: „Faust II endet mit einer sehr, sehr optimistischen Botschaft: Mephisto steht blamiert da, weil eine Aufwallung ausgerechnet des schönsten und edelsten aller menschlichen Gefühle, der Liebe, ihn daran hindert, Fausts Seele zu greifen, die deshalb nicht dem Teufel anheimfällt, sondern gerettet wird.“

Nachfrage nach Polit-Ikone „Sahra Wagenknecht“ steigt

Zwei Aspekte sind hier besonders aufschlussreich: Da ist Wagenknechts Bewertung des Paktes zwischen Faust und Mephisto. Am Ende verliert Faust seine Seele eben nicht. Sagt das etwas auch über ihr aktuelles politisches Kalkül aus? Geht ihre Identifikation mit Faust so weit, dass auch sie sich zutraut, mit dem Feuer spielen zu können, ohne doch Schaden an der Seele nehmen zu müssen?

Ihre Antworten sind aber auch beispielhaft dafür, wie Sahra Wagenknecht das Produkt „die Politiker-Philosophin Sahra Wagenknecht“ verkauft. Sie ist in der Lage, ein Narrativ zu konstruieren: Sie sei nicht über die sonst übliche „Ochsentour“, sondern über einen philosophischen Denkweg zur Politikerin geworden. Dieses Angebot verschafft ihr auf dem politischen Markt eine Sonderstellung – und die Nachfrage steigt. Die Polit-Ikone „Sahra Wagenknecht“ ist zu einem Konsumprodukt geworden. Eigentlich paradox für eine Kapitalismuskritikerin. Zumindest Wagenknechts Gegner in der Linkspartei scheinen das erkannt zu haben.

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