Bei einem Wahlkampfauftritt Anfang August bestätigte US-Präsident Joe Biden, was außenpolitische Beobachter und Vietnamexperten bereits erwartet hatten: Nämlich, dass er die Absicht habe „in Kürze“ nach Vietnam zu reisen.
Der Besuch in dem kommunistischen Einparteienstaat wird am 10. September stattfinden und illustriert, wie das geopolitische Mächtegleichgewicht in der Indo-Pazifik Region in Bewegung geraten ist und die Realpolitik eine Renaissance erlebt. Dass Bidens erster Staatsbesuch in Südostasien ihn ausgerechnet zum ehemaligen Kriegsgegner nach Hanoi führt und er dafür auch auf die Teilnahme an dem Gipfeltreffen der südostasiatischen Staatengemeinschaft ASEAN verzichten wird, macht deutlich, welchen strategischen Stellenwert Washington mittlerweile dem einstigen Kontrahenten beimisst. Vor dem Hintergrund des geopolitischen Wettbewerbs mit der Volksrepublik China und den zunehmenden Spannungen im Südchinesischen Meer und Taiwan-Straße stellt Vietnam einen elementaren Baustein in der interessengeleiteten Indo-Pazifik-Strategie der Vereinigten Staaten dar – und man ist bemüht, die Partnerschaft mit Vietnam nachhaltig und umfassend zu vertiefen.
China lässt die ehemaligen Kriegsgegner enger zusammenrücken
Ein halbes Jahrhundert nach dem Rückzug der USA aus Südvietnam und dem bald darauffolgenden Sieg des kommunistischen Nordvietnams wird der 80-jährige US-Präsident Joe Biden aller Voraussicht nach in Hanoi gemeinsam mit dem eineinhalb Jahre jüngeren Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams, Nguyen Phu Trong, eine „Strategische Partnerschaft“ verkünden. Damit hätten die Vereinigten Staaten endlich erreicht, was bereits die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton im Jahr 2010 erfolglos den Vietnamesen angetragen hatte. Stattdessen war 2013 nur eine niedrigschwellige „Umfassende Partnerschaft“ etabliert worden.
Zehn Jahre später wähnt man sich nun am Ziel. Absehbar ist, dass Gegenwart und Zukunft der bilateralen Beziehungen sowie die vertiefte Zusammenarbeit auf Grundlage geteilter strategischen Interessen im Fokus des Besuchs stehen werden. Die leidvolle Vergangenheit, ideologische Differenzen und die Menschenrechtslage im Land werden höchstens am Rande eine Rolle spielen. Der sich rasant vollziehende politische, wirtschaftliche und militärische Aufstieg der Volksrepublik China und dessen immer expansiveres und aggressiveres Auftreten lassen die ehemaligen Kriegsgegner nun enger zusammenrücken und zu strategischen Partnern werden. Wobei Hanoi dies keinesfalls als Seitenwahl in einer neuen Blockkonfrontation missverstanden haben möchte: Zu dem traditionellen Rüstungspartner Russland und auch zum großen Nachbarn und wichtigsten Handelspartner China, mit dem man aller ideologischer Nähe zum Trotz häufig über Kreuz liegt, unterhält man weiterhin engste Beziehungen.
Dabei haben sich die Beziehungen zwischen den USA und Vietnam seit dem Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung in den späten 1980er Jahren und der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen im Jahr 1995 auf allen Ebenen stetig intensiviert. So hat jeder US-Präsident seit Bill Clinton mindestens einmal Vietnam besucht (Donald Trump war sogar zwei Mal zu Gast) und auch im Vorfeld des Besuchs von Joe Biden hatte es eine hochrangige Besuchsdiplomatie gegeben, zuletzt auch mit den Besuchen von US-Notenbankchefin Janet Yellen und US-Außenminister Anthony Blinken. Längst sind die Vereinigten Staaten dabei zum wichtigsten Exportpartner Vietnams und nach China zweitwichtigsten Handelspartner insgesamt aufgestiegen. Apple hat eine Testproduktion für MacBooks und Apple Watch in Vietnam begonnen und Google hat die Herstellung seiner Smartphones aus Südchina nach Vietnam verlagert. Zugleich hat der vietnamesische Elektroautohersteller VinFast jüngst in New York den Börsengang gewagt und in North Carolina mit dem Bau einer zwei Milliarden teuren Autofabrik begonnen – der ersten Fabrik außerhalb Vietnams. Mit der erwarteten Aufwertung der Partnerschaft auf die strategische Ebene wird eine substanzielle Vertiefung der bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen erwartet, sei es im Bereich Halbleiterproduktion, resilienter Lieferketten oder Künstlicher Intelligenz.
Intensivierung der sicherheitspolitischen Kooperation
Auch im sicherheitspolitischen Bereich sind Washington und Hanoi in den vergangenen Jahren enger zusammengerückt. Nachdem 2016 der damalige US-Präsident Barack Obama die vietnamesische Hauptstadt besucht hatte, war die Aufhebung des seit dem Vietnamkrieg bestehenden US-Rüstungsembargos vereinbart worden. 2017 wurde erstmalig ein Patrouillenboot der US-Küstenwache an Vietnam übergeben, im darauffolgenden Jahr lief mit der USS Carl Vinson erstmalig ein amerikanischer Flugzeugträger für einen Hafenbesuch in Da Nang ein – in jener zentralvietnamesischen Hafenstadt, wo 1965 die ersten US-Marines angelandet waren. Der jüngste Hafenbesuch der Flugzeugträgergruppe der USS Ronald Reagan im Juni dieses Jahres in Da Nang unterstrich die Ernsthaftigkeit der Vereinigten Staaten, aktiv für die Freiheit der Seewege ein- und den expansiven chinesischen Gebietsansprüchen entgegenzutreten. Mit der Aufwertung der Partnerschaft wird auch eine Intensivierung der sicherheitspolitischen Kooperation zwischen Hanoi und Washington einhergehen – zum Unmut Chinas.
Die aktive Bereitschaft Vietnams, mit den Vereinigten Staaten über alle ideologischen Grenzen hinweg sogar im sicherheitspolitischen Bereich zu kooperieren, ist dabei seiner geostrategisch verwundbaren Lage geschuldet. So verfügt Vietnam nicht nur über eine 1 200 km lange Landesgrenze mit der Volksrepublik China, sondern auch über eine 3 200 km lange Küstenlinien am Südchinesischen Meer.
Vietnams strategische Bedeutung ist groß
Aufgrund der von Peking postulierten völkerrechtswidrigen und expansiven maritimen Gebietsansprüche (sogenannte „9-Striche-Linie“, welche durch ein Urteil des Ständigen Schiedsgerichtshofs 2016 verworfen wurde) im Südchinesischen Meer findet sich Vietnam in einer sicherheitspolitisch bedrohlichen Situation wieder. Wiederholt hat Peking unter Beweis gestellt, die Gebietsansprüche mit Grauzonen-Taktiken und notfalls auch Gewalt durchzusetzen. Der chinesische Anspruch auf fast das gesamte Seegebiet führt zu Spannungen nicht nur mit Vietnam, sondern auch weiteren Anrainerstaaten. Künstliche Aufschüttung von Inseln und deren Militarisierung heizen die Spannungen mit den Nachbarstaaten und dem Rivalen USA an. Denn das Südchinesische Meer ist von strategischer Bedeutung: es verfügt nicht nur über reiche Fischbestände und signifikante Öl- und Gasvorkommen, sondern ist auch eine der wichtigsten maritimen Handelsrouten. Und es ermöglicht Chinas nuklearer U-Boot-Flotte den Zugang zu den Weltmeeren. Das Bekenntnis zur regelbasierten maritimen Ordnung ist daher das vielleicht wichtigste Bindeglied der amerikanisch-vietnamesischen strategischen Beziehungen. Zugleich setzt die geostrategisch verwundbare Lage Vietnams der Kooperation mit den USA auch Grenzen: unnötige Provokationen Pekings gilt es zu vermeiden. Hanoi wird daher desgleichen an seiner Politik der Bambus-Diplomatie festhalten und mit China den Ausgleich suchen.
Auch Deutschland hat Bedeutung Vietnams erkannt
Auch Deutschland hat längst die strategische Relevanz Vietnams erkannt. Was sich Joe Biden von seinem Besuch in Hanoi erwartet hat die Bundesrepublik bereits: Im Oktober 2011 verkündete die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in Hanoi eine „strategische Partnerschaft“. Und Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte im November vergangenen Jahres nach Japan und China als drittes asiatisches Land Vietnam.
Mit fast 100 Millionen Einwohnern ist der kommunistische Einparteienstaat Vietnam eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt und Deutschlands wichtigster Handelspartner in Südostasien. Der strategische Ausbau bestehender Kooperationen in den Bereichen Handel, Investitionen und Entwicklung kann nicht auf Demokratien und Wertepartner beschränkt werden. Vietnam ist Mitglied von mehr als einem Dutzend regionaler oder bilateraler Freihandelsabkommen. Im August 2020 trat das Freihandelsabkommen EVFTA zwischen der EU und Vietnam in Kraft. Ein Investitionsschutzabkommen befindet sich im Ratifizierungsprozess. Im Zuge einer Diversifizierung der Lieferketten profitiert Vietnam von einer „China Plus 1“-Strategie vieler ausländischer Unternehmen, die zu einem deutlichen Anstieg ausländischer – auch deutscher – Direktinvestitionen in Vietnam führt.
Dabei sind die Beziehungen nicht ohne Friktionen. Neben Sorgen um die Menschenrechtssituation führte auch der spektakuläre Entführungsfall eines vietnamesischen Staatsbürgers im Berliner Tiergarten 2017 zu einer Belastung der Beziehungen. Auch die Positionierung Vietnams im Ukraine-Krieg hatte in Berlin einige Enttäuschungen hervorgerufen. Dort wie auch in Washington hat sich jedoch die realpolitische Einsicht durchgesetzt, dass in einer sich rapide verändernden Weltordnung auch interessensgeleitete Partnerschaften mit autoritär regierten Schwellenländern gesucht werden müssen. Der Besuch von Joe Biden in Hanoi unterstreicht dies.
Der Autor ist Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Hanoi.
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