Iwano-Frankiwsk ist eine Hochburg der mit Rom unierten Katholiken des byzantinischen Ritus. Stundenlang drängen sich die Massen auf dem Vorplatz der Kathedrale, drinnen bestaunen die Gläubigen all die Metropoliten und Bischöfe, Priester, Seminaristen und Ordensfrauen, die zur Bischofsweihe angereist sind. Von der Kanzel aus verfolgen Kinder das Geschehen. Prachtvoll sind die Gesänge, die Gewänder der Priester, die Kronen der Bischöfe. Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk predigt volksnah und frei, mit strahlendem Lächeln und starker Stimme. Die Menschen hängen an seinen Lippen. Vier Tage später wiederholt sich das Schauspiel in der Auferstehungs-Kathedrale in Kiew: Wieder wird ein junger Priester zum Bischof geweiht, wieder Dutzende Kronen und prächtige Gewänder. Festtagsstimmung mitten im Krieg.
Beinahe könnte man für einen Moment vergessen, dass jeden Tag russische Raketen auf ukrainischen Boden regnen, dass Menschen erschossen oder vertrieben werden. Jeder Tag der russischen Aggression bringt Leid und Tod in der Ukraine, seit einem vollen Jahr schon. Am Vortag der Bischofsweihe wurden über Kiew mehrere Raketen abgefangen. "Etwa fünf Kilometer entfernt", schätzt ein Priester, als wir eine Detonation hören.
Predigen, heilen und regieren müsse ein Bischof, legt der Großerzbischof dem frisch geweihten Andrij Chimjak in der Predigt nahe. Jetzt ist die Zeit des Heilens. Bischof Mykhaylo Bubniy, der Exarch von Odessa, schildert im Gespräch mit dieser Zeitung die Lage in seiner Diözese, die teilweise noch unter russischer Okkupation leidet. Ein Gebiet wurde bereits befreit, ein Teil war immer frei. Im russisch besetzten Gebiet konnten nur drei Priester bleiben; sie müssen "sehr vorsichtig" arbeiten, alles meiden, was die Besatzer als Provokation deuten könnten, sagt er. In den befreiten Gebieten, die drei Monate russisch besetzt waren, spiele sich eine "humanitäre Katastrophe" ab: Die Infrastruktur ist zerstört; es fehlt an allem.
"Vielen Menschen fällt es schwer, anzunehmen, dass sie traumatisiert sind. Sie brauchen jemanden, dem sie vertrauen können."
Mit traumatisierten Menschen hat die Kirche seit 2014 zu tun, als Putin die Krim annektierte und die Ost-Ukraine zu terrorisieren begann. "Die Kirche tut mehr als die Regierung", sagt Bischof Mykhaylo. Manche Schulkinder müssten mehrfach täglich in die Schutzräume. Odessa lebe in Angst, denn die Strategie Putins, die russisch kontrollierte moldawische Provinz Transnistrien mit den besetzten ukrainischen Gebieten zu verbinden, sei offensichtlich. Großerzbischof Schewtschuk meint im "Tagespost"-Interview: "Vielen Menschen fällt es schwer, anzunehmen, dass sie traumatisiert sind. Sie brauchen jemanden, dem sie vertrauen können." Die Kirche sei vertrauenswürdig. Dagegen gebe es Vorurteile gegen Psychiater, weil die in der Sowjetzeit zur Unterdrückung missbraucht wurden. Nun trainiere die Kirche ihre Priester darin, zu erkennen, welche Unterstützung jemand braucht. Auf die Frage nach der Hilfe des Staates schmunzelt er: "Bis jetzt bekommen wir keine Hilfe vom Staat, sondern werden umgekehrt vom Staat um Hilfe gebeten." Ein anderer Bischof wird deutlicher: "Der Staat hilft uns, indem er nicht stört."
In den Trümmern von Irpin
Man ahnt das Ausmaß des Schreckens, dem die Ukrainer in den okkupierten Gebieten ausgesetzt sind, wenn man die Kiewer Vororte Irpin und Butscha besucht. Wir fahren auf der "Straße des Todes" von Kiew nach Nordwesten, vorbei an Panzersperren, Sandsäcken und Checkpoints. Vor einem Jahr, als Putins Armee auf Kiew vorrückte, kamen viele Zivilisten ums Leben. Familien, die in die Hauptstadt fliehen wollten, wurden von russischen Panzern beschossen oder überrollt. Ein Familienvater, der mit erhobenen Händen aus dem Auto stieg und um Gnade für seine Familie flehte, wurde vor den Augen seiner Kinder erschossen.
In Irpin zeigt Pfarrer Myroslaw Latenek, wo in seiner Kirche und im Pfarrhaus die Geschosse einschlugen. Selbst in der Ikonostase stecken drei Minensplitter. Am 1. März musste der Pfarrer der russischen "Befreiung" weichen. Als er am 7. April mit Großerzbischof Schewtschuk nach Irpin heimkehrte, durften beide das Pfarrhaus wegen der Minen nicht betreten. Wohnsiedlungen und Häuser, selbst die Schule schossen die russischen Truppen in Trümmer. Das Krankenhaus bombardierten sie aus der Luft. Ein Autofriedhof erinnert an den verzweifelten Versuch von Familien, den Invasoren zu entfliehen. Manche ließen ihr Auto stehen, um sich zu Fuß zu retten; den Schlüssel ließen sie stecken, damit andere das Fahrzeug nutzen konnten. Die Verteidiger sprengten Brücken, um das Vorrücken der Angreifer auf die Hauptstadt zu stoppen.
Als er nach fünf Wochen heimkehrte, lag ein unangenehmer Geruch in den Straßen, erinnert sich der Pfarrer: Leichengeruch. 50 ukrainische Soldaten waren gefallen; 300 Zivilisten notdürftig begraben worden. In Butscha hatten die Russen weniger Häuser zerstört, aber unfassbare Gräueltaten begangen. Wir besuchen jenes Massengrab, in dem nach dem Rückzug der Russen die Toten aus dem Krankenhaus und die Leichen von der Straße bestattet wurden. Kinder, Frauen und Greise, ganz gewöhnliche Menschen wurden tot auf der Straße vorgefunden, erzählt Pfarrer Myroslaw. Manchen Leichen waren die Hände auf den Rücken gefesselt. Er habe von Suiziden gehört, aber manche Leute seien während der Besatzung in ihren Wohnungen schlicht verhungert.
Tausende suchen bei der Kirche Hilfe
Während des Totengedenkens in der Kiewer Auferstehungs-Kathedrale bringen Gläubige Plastiksäcke mit Grundnahrungsmitteln in die Kirche: Brot, Sonnenblumenöl, mitunter eine Flasche Wein für jene, die sie dringender benötigen. Nebenan schildert der Ökonom der griechisch-katholischen Kurie, Pater Lubomyr Jaworskij, wie seine Kirche tausende Flüchtlinge aus der Gefahrenzone evakuierte, mit dem Nötigsten versorgte und unterbrachte. Der Exarch von Charkiw, Bischof Vasyl Tutschapez, berichtet, dass seine Stadt nicht mehr täglich beschossen werde, nur hin und wieder. "Die humanitäre Lage ist sehr schwierig. Immer mehr Menschen fliehen aus den Grenzgebieten in die Stadt. Sie brauchen Lebensmittel, Medikamente, warme Kleidung und Decken." Die griechisch-katholische Kirche wird zur Anlaufstelle für alle: "Es kommen jetzt mehr und mehr Orthodoxe, die früher in die russische Kirche gingen, zu uns. Tausende suchen täglich bei der Kirche Hilfe." Charkiw war eine russischsprachige Stadt; es gab freundschaftliche und familiäre Beziehungen über die Grenze hinweg. Nun bekennen sich viele Russischsprachige klar als Ukrainer, erzählt der Bischof. "Sie wollten nicht, dass Russland in die Ukraine kommt."
Der Krieg habe einen Keil zwischen Verwandte getrieben, weil viele in Russland "mit den Narrativen der russischen Regierung sprechen
und ihren Verwandten in der Ukraine nicht glauben, dass sie beschossen werden". Der Bischof aus Charkiw weiß auch zu berichten, dass manche Priester der "Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats" die russischen Besatzer unterstützten. "Viele von ihnen folgen blind den Weisungen aus Moskau." Dagegen werden griechisch-katholische Priester als "Terroristen" entführt und gefoltert, etwa die Redemptoristen-Patres Ivan Levytsky und Bohdan Heleta, die an der Kirche "Mariä Geburt" in Berdjansk an der Schwarzmeerküste wirkten. Bischof Stefan Meniok, der Exarch von Donezk, will, dass die Welt vom Schicksal seiner entführten Priester erfährt. "Unser Geheimdienst hat in den Klöstern der russischen Orthodoxie belastendes Material gefunden dafür wollten sie sich rächen", sagt Meniok, der seinen Bischofssitz in Donezk wegen des russischen Terrors bereits 2014 verlassen musste.
Trotz der russischen Zerstörungswut strahlt die Ukraine eine beeindruckende Vitalität aus. In Iwano-Frankiwsk bereiten sich 200 griechisch-katholische Priesteramtskandidaten auf ihre Weihe vor. Tipptopp und blitzblank sind nicht nur das Priesterseminar und die bischöfliche Kurie, sondern auch die katholische Schule, die 340 Schüler besuchen, und die neue, kirchliche St. Lukas Klinik, an der 200 Ärzte all jene, die nicht zahlen können, kostenfrei behandeln. Nach 44 Jahren blutiger Verfolgung stieg die griechisch-katholische Kirche der Ukraine 1989 aus den Katakomben. 33 Jahre später ist sie volksnäher und vitaler denn je.
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