Herr Botschafter, haben die diplomatischen Bemühungen der vergangenen Tage irgendetwas Positives im Sinne der Friedenssicherung gebracht?
Die diplomatischen Initiativen der vergangenen Tage waren zwar wichtig, und die Ukrainer sind ihren westlichen Verbündeten für diese Bemühungen sehr dankbar. Nur haben sie keine Früchte getragen. Es gibt keine Entwarnung. Ganz im Gegenteil: Russland hat ausgerechnet während all dieser Gespräche auf dem internationalen Parkett noch vehementer weiter an der Eskalationsspirale gedreht und zusätzliche Truppen sowie schwere Waffen Richtung Ukraine geschickt. Die Lage ist inzwischen noch gefährlicher geworden. Auch deswegen, weil sich unsere Partner auf Verhandlungen mit Russland eingelassen haben, obwohl Wladimir Putin der freien Welt de facto ein Ultimatum gestellt hat, das weder von der NATO noch von der Ukraine hingenommen werden kann. Daher bleibt die akute Gefahr bestehen. Der Kremlchef ist an einem ernsthaften Dialog gar nicht interessiert und hat nur einen Vorwand gesucht, um den Dialog für gescheitert zu erklären und die militärische Karte auszuspielen.
Was kann insbesondere Deutschland jetzt tun, um eine russische Aggression gegen die Ukraine zu verhindern und den Frieden zu sichern?
"Deutschland trägt eine besondere, historisch
begründete Verantwortung gegenüber der Ukraine"
Deutschland trägt eine besondere, historisch begründete Verantwortung gegenüber der Ukraine. Daher sollte die Ampel-Regierung alle logisch klingenden Einwände und Ausreden ablegen und sofort handeln, um einen neuen zerstörerischen Einmarsch der Russen noch abzuwenden. Man muss doch in Berlin erkannt haben, dass all diese Ankündigungen von „schwerwiegenden“, aber vagen, nebulösen Konsequenzen für Moskau keine Wirkung gezeigt haben. Diese Unklarheiten ermuntern Putin sogar, noch offensiver und skrupelloser vorzugehen. Daher müsste die neue Bundesregierung in der NATO und in der EU dafür werben, unverzüglich sehr schmerzhafte präventive Strafmaßnahmen gegen Russland auf den Weg zu bringen. Dazu sollten ein sofortiges Embargo von russischen Erdöl- und Gasimporten, der endgültige Stopp von Nord Stream 2 sowie von jeglichen westlichen Investitionen in Russland, sein Ausschluss vom Swift-Zahlungssystem, das Einfrieren ausländischer Staatsvermögen und Bankkonten Russlands sowie persönliche Sanktionen gegen die Staatsführung zählen.
London liefert bereits Waffen. Was erwartet die Ukraine von Deutschland?
Die Ukraine erwartet von Berlin – parallel zur präventiven Sanktionspolitik – auch unverzügliche mutige Schritte, um ein militärisches Abschreckungspotenzial gegenüber Russland aufzubauen. Vor allem geht es darum, dringend notwendige Waffen an die Ukraine zu liefern, um ihre Verteidigungsfähigkeit qualitativ zu erhöhen und somit den Preis für Putins neue, groß angelegte Invasion zu verhundertfachen.
Denken Sie, dass Präsident Putin bereits einen klaren Plan hat? Oder reagiert er in seiner Taktik flexibel?
"Der Kremlchef hat einen monströsen strategischen
Masterplan, die Staatlichkeit der Ukraine auszulöschen"
Er tut beides. Der Kremlchef hat einen monströsen strategischen Masterplan, die Staatlichkeit der Ukraine auszulöschen. Diesen verfolgt er mit Obsession und brutaler Hartnäckigkeit. Dabei ist er gezwungen, zu taktieren und zu lavieren, wo er auf standhaften Widerstand des Westens, und insbesondere Deutschlands, stößt. Berlin trägt eine historische Verantwortung gegenüber der Ukraine wegen der NS-Verbrechen während des deutschen Besatzungsregimes. Von acht Millionen Opfern waren mehr als fünf Millionen Zivilisten, darunter anderthalb Millionen ukrainische Juden. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zu zeigen, dass Deutschland diese Verantwortung ernst nimmt und bereit ist, das Existenzrecht der Ukraine mit allen, auch militärischen Mitteln zu verteidigen.
Wie wahrscheinlich ist eine direkte militärische Auseinandersetzung?

Kein normaler Mensch kann in die Abgründe vom Putins Kopf hineinblicken. Das Risiko des wohl größten Krieges im Herzen Europas seit 77 Jahren wächst mit jedem Tag, an dem der Westen keine ernst zu nehmende Abschreckungspolitik verfolgt. Der wichtigste Faktor für den Kremlherrn war und ist, inwiefern sich die Ukraine gegen seinen neuen Angriff erfolgreich verteidigen kann. Bisher blockiert die Ampel-Regierung die Lieferung von Defensivwaffen für Kiew weiterhin – ungerechterweise. Die Ukrainer sind bereit, für ihre Heimat bis zum letzten Tropfen Blut zu kämpfen, weil unsere Unabhängigkeit, die wir im Laufe der Geschichte zu oft verlieren mussten, das höchste Gut ist. Deutschland ist fähig und gefordert, uns mit notwendigen Rüstungsgütern zu helfen. Obwohl unsere Streitkräfte während des seit fast acht Jahren andauernden Kriegs erheblich verstärkt wurden, brauchen sie modernste deutsche Verteidigungswaffen, um Putins Eroberungsfantasien zu durchkreuzen. Uns läuft die Zeit davon.
Welche Schäden hat die seit 2014 währende Auseinandersetzung um den Osten der Ukraine gebracht?
Es ist kaum möglich, die unermesslichen Kriegsschäden für die Ukraine in nüchternen Zahlen auszudrücken. Mehr als 14.000 Menschen sind ums Leben gekommen. 1,5 Millionen Ukrainer mussten als Binnenflüchtlinge ihre Heimat in der okkupierten Ostukraine verlassen. Putin hat sich sieben Prozent des ukrainischen Staatsgebietes militärisch einverleibt: in den Regionen von Donezk und Luhansk sowie auf der Krim. Das wäre die gleiche Fläche wie Sachsen und Thüringen zusammen. Aber die Wirtschaftskraft, die wir wegen der russischen Besatzung vorläufig verloren haben, übersteigt 20 Prozent. Das ist als ob in Deutschlands Bruttoinlandsprodukt plötzlich Nordrhein-Westfalen fehlen würde! Das hat massivste Folgen für die ukrainische Volkswirtschaft, aber vor allem für die Menschen. Dieser schreckliche Zustand darf nicht mehr lange toleriert werden oder in Vergessenheit geraten. Wir hoffen, dass die Ampel-Regierung mit sehr konkreten Taten dafür sorgt, dass die Souveränität der Ukraine endlich wiederhergestellt wird.
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