Auf den ersten Blick erscheint es verführerisch: Könnte man nicht die vorhandenen, in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke länger nutzen? Versorgungssicherheit und Klimaschutz scheinen damit gleichermaßen gewährleistet – und das langfristig, unabhängig und zu niedrigen Kosten.
Doch auf den zweiten Blick zeigen sich die Probleme. Man kann vier Argumente gegen die Verlängerung der AKW-Laufzeit unterscheiden: das Kosten-, das Nachhaltigkeits-, das Sicherheits- und das Müllargument. Ich werde diese Anti-Atomkraft-Argumentation entfalten, nicht ohne zuvor festgestellt zu haben, dass mir die Gründe derer, die sich auf die verführerische Seite der Atomkraftwerke (AKW) schlagen, durchaus einleuchten und ich das gemeinsame Ringen um Klimaschutz zur Sicherung der „Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ (so Hans Jonas in seinem ökologischen Imperativ) unter der Bedingung, dass keine Generation auf Kosten kommender Generationen leben darf (ein Gedanke, den etwa Karl Popper in seiner Utopismuskritik betont), durchaus schätze. Nur sehe ich eben gerade diese Prämissen der Verantwortung und Gerechtigkeit durch die Atomkraftnutzung gefährdet.
Ökonomisch ein Irrweg
Zunächst zu den Kosten. Ökonomisch wäre ein Verbleib bei oder gar ein Ausbau der Atomkraft ein Irrweg: Wir haben hohe (und steigende) Kosten pro Kilowattstunde (etwa 13 Cent), während erneuerbare Energie niedrige (und sinkende) Kosten aufweisen (Windenergie: 4 bis 10 Cent; Solarenergie: 3 bis 12 Cent). Bezieht man externe Effekte (also: Umweltkosten) mit ein, sieht die Bilanz für Atomstrom noch schlechter aus.
Das gilt auch für die Nachhaltigkeit. Sonne und Wind gibt es „frei Haus“, AKW verbrauchen Ressourcen, die kostenintensiv gefördert werden müssen.
Der Rohstoff Uran 235 ist endlich und muss importiert werden; die Abhängigkeit der deutschen Energiewirtschaft bliebe also bestehen. Die Uranvorkommen reichen immerhin noch etwa 200 Jahre. Es gibt weltweit etwa 400 Reaktoren, die vier Prozent der benötigten Primärenergie erzeugen. Zu 80 Prozent wird die Erzeugung der global erforderlichen Primärenergie mit fossilen Brennstoffen (Kohle, Öl und Gas) bewältigt. Das würde bedeuten, man müsste das 20-fache an Kernkraftwerken bauen, um diesen Bedarf decken zu können (wenn Deutschland weiter die Atomenergie nutzt, kann es Ländern wie Indien und China nicht glaubwürdig davon abraten). Das würde die Ressourcen nach etwa zehn Jahren erschöpfen.
Das "Restrisiko" ist nicht zu unterschätzen
Kommen wir zum Risiko. Zahlreiche – zum Teil sehr schwere – Störfälle zeigen, wie anfällig die Atomtechnologie ist; die Wikipedia-„Liste von Unfällen in kerntechnischen Anlagen“ gibt einen Überblick. Der katholische Moralphilosoph Robert Spaemann hat immer wieder dazu aufgerufen, die Reaktoren abzuschalten. Nicht nur wegen Tschernobyl, nicht allein wegen Fukushima, sondern allein aus einem einzigen Grund: „Weil wir die Technologie nicht beherrschen“. Das zeigt sich leider immer wieder. Auch wenn deutsche AKW den höchsten Standards genügen, bleibt eine verharmlosend „Restrisiko“ genannte Gefahr von Stör- und Unfällen, ganz abgesehen davon, dass Atomanlagen auch mögliche Angriffsziele in militärischen Auseinandersetzungen oder für Terroristen sein können.
Last, but not least: Was übrig bleibt ist – Müll. Der wird auch noch lange bleiben und bei Weiterbetrieb der AKW immer weiter zunehmen – bei unbeantworteter Endlagerfrage. Keine Petitesse, strahlt doch der Atomabfall zig Generationen lang vor sich hin. CO2-emissionsarmer Strom aus AKW heute ist angesichts der Kosten, der Risiken und der Hypothek für die Zukunft nicht gerechtfertigt. Wenn die Atomkraft eine „Brückentechnologie“ ist, dann muss man, noch einmal mit Spaemann, diese Brücke „so schnell wie möglich überqueren, und das auch unter einschneidenden Opfern an Geld und Wohlstand“.
Also: Raus aus der Atomkraft, rein in die erneuerbaren Energien!
Soll man angesichts des russischen Krieges in der Ukraine am Ausstieg aus der Atomkraft festhalten? Nein, meint der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Dörflinger. Aus allem raus geht nicht.
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