Einst war der Libanon das einzige arabische Land mit christlicher Mehrheit. Er galt als „Schweiz des Orients“ – nicht nur wegen seines komplizierten politischen Systems, das die Macht zwischen Christen, Sunniten und Schiiten so auszubalancieren suchte, dass keine Bevölkerungsgruppe unter die Räder gerät, sondern auch aufgrund seiner wirtschaftlichen Prosperität. Heute mangelt es im Libanon an allem, außer an Problemen. Medikamente, Strom, Lebensmittel, sogar Trinkwasser wurden zu Luxusgütern. Nicht nur der wirtschaftliche, auch der staatliche Zusammenbruch ist in Sichtweite. Schwer zu sagen, ob die Politik nur unfähig oder auch unwillig ist, gegen Chaos, Kriminalität, Korruption und Elend vorzugehen.
In dieser verzweifelten Lage ist das Oberhaupt der größten christlichen Konfession, der maronitische Patriarch Béchara Pierre Raï, über seine traditionelle Rolle als Sprecher der libanesischen Christenheit hinausgewachsen und zu einem mutigen Fürsprecher des Gemeinwohls geworden.
Anwalt des Gemeinwohls
Die Maroniten sind stolz darauf, als einzige Kirche des Orients ohne Spaltung in die Union mit Rom gegangen zu sein. Und sie identifizieren sich stärker als ihre muslimischen Landsleute mit der Gründungsidee des Libanon. Kein Wunder, dass sich an der Levante die Christen aller Konfessionen in Krisenzeiten um den maronitischen Patriarchen scharen. Bewundernswert ist gleichwohl, wie vehement Kardinal Raï den Mächtigen seines Landes die Leviten liest: Nachdrücklicher als andere fordert er die Aufklärung der Hintergründe der Explosion im Hafen von Beirut, mahnt die Regierung, die Justiz unbeeinflusst arbeiten zu lassen, droht Politikern mit der heimischen und internationalen Öffentlichkeit. Er nennt die Korruption mächtiger Cliquen und die Verarmung der Massen beim Namen. Sogar mit der stärksten bewaffneten Einheit des Landes, der schiitischen Hisbollah, legt sich der Patriarch an: „Wir können nicht akzeptieren, dass eine Armee geschaffen wird, die einem fremden Staat gehört“, sagte er am Sonntag in Anspielung darauf, dass die Hisbollah der politische wie militärische Arm des Iran im Libanon ist.
Die zwei Millionen syrischen Flüchtlinge im Land rief Raï, der seit einem Jahrzehnt an der Spitze der Maroniten steht, auf, in ihre Heimat zurückzukehren. Die großherzige Aufnahme früher der palästinensischen, später der syrischen Flüchtlinge hat den kleinen Libanon in den ökonomischen und staatlichen Kollaps geführt. In diesen Abgrund blickend wurde Patriarch Raï zur vielleicht letzten moralischen Autorität und zum Anwalt des libanesischen Gemeinwohls.
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