Von Patriarch Kyrill über Außenminister Sergej Lawrow bis Ex-Präsident Dmitri Medwedew: Putins Lautsprecher behaupten, der Westen plane die Zerstörung und Zerstückelung Russlands; er führe einen Krieg gegen Russland, indem er die Ukraine zu einem Anti-Russland gemacht habe. Tatsächlich jedoch hat Wladimir Putin selbst den Krieg ins eigene Land getragen: Indem er eine Teilmobilmachung von bisher 300.000 Reservisten anordnete, löste er Chaos und Panik - die er in die Ukraine exportieren wollte - in Russland aus. Hunderttausende flohen in den zurückliegenden Tagen: mit dem Flugzeug, mit Autos, mit dem Fahrrad und sogar zu Fuß nehmen russische Männer Reißaus. 98.000 flohen allein nach Kasachstan, Zehntausende nach Finnland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan oder in die Türkei. Der tschetschenische Putin-Vertraute Ramsan Kadyrow nannte die Fliehenden "Ballast" und "Feiglinge", die der Armee nur schaden würden.
Massenproteste lässt er niederprügeln
Massenproteste gegen die Mobilmachung lässt das Putin-Regime gnadenlos niederprügeln; Tausende russische Demonstranten wurden bereits verhaftet. Im Gegensatz zum offiziellen Dekret werden auch Greise und Schwerkranke einberufen. Die Mobilmachung verläuft ebenso chaotisch wie zuvor die Invasion. Nur ist diesmal die russische Mittelschicht unmittelbar betroffen und fürchtet nun um ihre Söhne. Allein die Kreml-nahe Oberschicht kann ihren Nachwuchs immer noch davor bewahren, als Kanonenfutter in die Ukraine geschickt zu werden, wie ein veröffentlichter Fake-Anruf beim Sohn von Putin-Sprecher Dmitri Peskow beweist.
Die "Referenden" in den russisch besetzten und kontrollierten ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja ergaben nach russischen Angaben eine Zustimmung zwischen 87 und 97 Prozent zu einem Anschluss an Russland. Kein Wunder: Die Stimmen wurden teilweise von Soldaten mit Maschinenpistolen an der Wohnungstüre oder am Arbeitsplatz eingetrieben. Die Wahlurnen waren durchsichtig; von einer geheimen oder gar freien Abstimmung konnte keine Rede sein. Weder die Ukraine noch die internationale Staatengemeinschaft sind bereit, die Referenden und ihre Folgen anzuerkennen. Der Gesamtukrainische Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der 15 Kirchen und Religionen in der Ukraine und damit 90 Prozent der Einwohner repräsentiert, verurteilte die Referenden als illegalen, gewaltsamen Annexionsversuch, der gegen jedes Recht verstoße. Die Pseudo-Referenden "mit vorgehaltener Waffe" verhöhnten die Demokratie. Der katholische Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk bezeichnete die Referenden als "Instrument der Verfolgung und Erniedrigung von Menschen". Einen "eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht" sieht auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in den Scheinreferenden.
Der Kreml bedroht die Welt unterdessen mit dem Einsatz von Atomwaffen. Nach Putin und Lawrow warnte zuletzt auch Medwedew, Russland werde ohne Vorwarnung Atomwaffen einsetzen, wenn es sich bedroht fühlt. Moskau hofft, dass der Westen die Ukraine fallenlässt, um einen Atomkrieg zu vermeiden: "Schließlich ist die Sicherheit Washingtons, Londons und Brüssels für das Nordatlantische Bündnis viel wichtiger als das Schicksal einer im Sterben liegenden Ukraine, die keiner braucht", so Medwedew. Russischen Medienberichten zufolge plant Putin, die besetzten ukrainischen Gebiete rasch einzugliedern und mit der 2014 annektierten Krim zu einem "Krimbezirk" zu vereinen.
EU will weitere Gelder für die Ukraine freigeben
Die EU will weitere fünf Milliarden Euro für die Ukraine freigeben. Im Europäischen Parlament haben vier Fraktionen das ukrainische Volk beziehungsweise Präsident Wolodymyr Selenskyj für den nach dem russischen Nobelpreisträger Sacharow benannten Menschenrechts-Preis vorgeschlagen. Die Entscheidung darüber fällt am 20. Oktober, doch an einer Ehrung der Ukrainer scheint im Europäischen Parlament kein Weg vorbei zu führen. Im Vorjahr ging der Sacharow-Preis an den inhaftierten russischen Putin-Kritiker Alexej Nawalny.
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