Moskau

Mit Gott für Putin

Am 1. Juli stimmen die Russen über eine neue Verfassung mit Gottesbezug ab. Die russisch-orthodoxe Kirche begrüßt den Schritt. Doch 70 Jahre Sowjetatheismus haben Spuren hinterlassen. Die Kirche ist für den Staat wichtiger als für die Gesellschaft .
Wie aufrichtig der Glaube des Wladimir Putins ist, weiß wohl nur er selbst.
Foto: Alexei Druzhinin (Pool Sputnik Kremlin/AP) | Russlands Staatschef Wladimir Putin lässt kaum einen Kirchenfeiertag aus, um sich in einem Gotteshaus zu zeigen. Wie aufrichtig der Glaube des Ex-Kommunisten ist, weiß wohl nur er selbst.

Für die Kirchenoberen ist Andrej Kurjajew der "Gottseibeiuns" - für die Kritiker der russisch-orthodoxen Amtskirche dagegen ist der Protodiakon mit dem Rauschebart und der Statur eines Bären Hoffnungsfigur und Gewissen der Kirche. Der streitbare Geistliche lässt kaum eine Gelegenheit aus, um das Patriarchat in Moskau und Kirchenführer Kyrill heftig zu kritisieren - und ganz modern, wie man es ihm angesichts seines Äußeren gar nicht zutrauen würde, tut er das auch in den sozialen Medien, etwa auf Facebook. Sein wichtigster Kritikpunkt: Die in seinen Augen unanständig große Nähe zwischen Kirchenführung und Staat, zwischen Patriarch Kyrill und Präsident Putin.

Gott soll in die Verfassung

Ein ganz besonderer Dorn im Auge ist dem unbeugsamen Protodiakon denn auch, was die beiden Männer an der Spitze von Staat und Kirche jetzt quasi in Teamwork planen: Im Rahmen der anvisierten Verfassungsreform, deren oberstes Ziel es nach einhelliger Ansicht der meisten Kreml-Kritiker ist, Präsident Putin entgegen den Begrenzungen der aktuell gültigen Verfassung eine weitere Amtszeit zu ermöglichen, soll ein lange gehegter Wunsch des Oberhirten in Erfüllung gehen. Der Patriarch "von Moskau und der ganzen Rus" möchte eine Änderung im Grundgesetz der russischen Föderation: "Wir beten und bemühen uns, dass Gott in unserer Verfassung vorkommen wird, weil die Mehrheit der russischen Bürger an Gott glaubt." Schon in der Nationalhymne sei der Allmächtige schließlich erlaubt, so Kyrill. "Warum kann das dann nicht auch in der Verfassung gesagt werden?"

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Bisher fehlt in dem streng säkularen Grundgesetz des Landes mit zahlreichen verschiedenen Konfessionen jeder Hinweis auf Gott. Die strikte Trennung von Staat und Kirche ist auch ein Erbe der Sowjetunion und ihres Kampfes gegen die Kirchen und für Atheismus. Dennoch fand die Idee Kyrills Anklang: In die Präambel der Verfassung soll nun, so zumindest ist es beabsichtigt, von der Russischen Föderation die Rede sein, die "die Erinnerung an ihre Vorfahren bewahrt, die uns Ideale und den Glauben an Gott übermittelten".

Der aufmüpfige Protodiakon Kurjajew kann mit solchen Plänen nichts anfangen. Im Interview mit dem Nachrichtendienst NSN rief er dazu auf, zu hinterfragen, was der Hintergrund der "Gottes-Einfügung" in die Verfassung sei: die zu große Nähe der Kirchenfürsten zur Politik: "Wenn die ihre Aufgabe darin sehen, maximal ihren Einfluss zu erweitern, indem sie sich auf das Wort ,Gott' berufen können, wenn sie damit noch mehr finanzielle, administrative oder anderweitige Unterstützung wollen vom Staat, dann ist so eine Novelle in der Verfassung natürlich für manche Leute notwendig", so Kurjajew spitz. Und weiter: "In der Orthodoxie fehlt das Gen der politischen Enthaltsamkeit. Unsere Bischöfe können enthaltsam sein, was Würste angeht, oder sexuelle Freuden, aber wenn sie die Möglichkeit bekommen, noch ein bisschen mehr Macht über die Menschen zu bekommen, werden sie nie Nein sagen." 

"Wenn sie die Möglichkeit bekommen,
noch ein bisschen mehr Macht über die Menschen
zu bekommen, werden sie nie Nein sagen"
Protodiakon Kurjajew über die orthodoxen Bischöfe

Tatsächlich stört die Nähe von Kirche und Staat unter Putin viele kritische Gläubige. Der frühere KGB-Oberstleutnant im Kreml und der Oberhirte, dem hartnäckig ebenfalls eine Nähe zum KGB in der Sowjetzeit nachgesagt wird, arbeiten Hand in Hand. Auch wenn die russisch-orthodoxe Kirche schon spätestens seit Zar Peter dem Großen, der von 1682 bis 1721 herrschte, nach Ansicht sehr eng mit der Macht verbunden war: Zu einer "Unterabteilung des Kremls" - wie Kritiker sie nennen - wurde sie erst unter Wladimir Putin.

Der Staatschef lässt kaum einen Kirchenfeiertag aus, um sich in einem Gotteshaus zu zeigen. Wie aufrichtig der Glaube des Ex-Kommunisten ist, weiß wohl nur er selbst. Politisch jedenfalls setzt er ganz auf die russisch-orthodoxe Kirche. Neben dem Kult um den Sieg über Hitler-Deutschland 1945 ist die Orthodoxie der weltanschauliche Zement, mit dem Putin den russischen Staat nach dem Wegfall der kommunistischen Ideologie zusammenhalten will - was insbesondere deshalb ein gewagtes Unterfangen ist, weil es in Russland viele Konfessionen gibt und der Glauben nicht mehr tief verwurzelt ist. Was die Zugehörigkeit zu einzelnen Religionsgruppen angeht, gibt es keine zuverlässigen Zahlen, da die Mitglieder von Kirchen und Gemeinden nicht registriert werden. Schätzungen zufolge sind 40 bis 75 Prozent der Menschen Orthodoxe, 25 bis 35 Prozent Religionslos oder Atheisten, 20 bis 25 Prozent Agnostiker, sieben bis 15 Prozent Muslime, zwei Prozent andere Christen, 0,7 Prozent Buddhisten, und 0,35 Prozent Juden. Putin bemüht sich um gute Kontakte zu den Oberhirten aller Religionen. 

In Umfragen geben regelmäßig rund 70 Prozent der Russen an, sie seien orthodox. Dies hat damit zu tun, dass nach russischem Selbstverständnis der orthodoxe Glaube auch Teil der russischen Identität ist - aber nicht unbedingt den Glauben an Gott einschließt, so paradox dies für westliche Beobachter auch anmutet. Wenn es um das Praktizieren des Glaubens geht, sehen die Zahlen denn auch ganz anders aus. Im Leben jedes vierten Russen spielt Religion laut einer Umfrage von 2016 keine Rolle; weitere 40 Prozent sehen keine große Bedeutung der Religion in ihrem Leben. Nur für jeden Dritten ist die Religion wichtig oder sehr wichtig   wobei hier die traditionell religiöseren Muslime mit in die Statistik eingehen. Älteren Umfragen zufolge besuchen nur drei Prozent der Russen mindestens einmal in der Woche eine Messe.

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Glaube nur wenig praktiziert

So wenig der Glaube praktiziert wird, so verbindlich ist etwa die Nähe von Unternehmern zur Amtskirche. Unterstützung für Projekte wie etwa den (Wieder-)Aufbau von Kirchen in Form von Spenden gilt als obligatorisch "Diejenigen, die die Kirche finanziell unterstützen, haben klare Vorteile", berichtet der Soziologe Tobias Köllner, der in einer Studie die Nähe von orthodoxer Kirche und Staat in Russland untersucht hat: "Von ,oben' werden solche Spenden auch erwartet. Unternehmer, die keinen Obulus entrichten, können lukrative Staatsaufträge verlieren, Probleme bekommen etwa durch Steuerprüfungen oder Inspektionen der Hygienebehörden."  

Im Gegenzug ist die Kirche ganz auf Putins Kurs, insbesondere, wenn es gegen den Westen geht. 2003 erschien in Moskau der Einführungsband für eine neue  Große Enzyklopädie des russischen Volkes , die von orthodoxen Kirchenkreisen finanziert wurde. Dort heißt es, Russland werde seit Jahrhunderten und bis heute von einem inneren "satanischen" Widersacher bedroht, hinter den man leicht "den Juden" identifizieren könne, auch wenn er als "Freimaurer", als "Bolschewik", als "Kosmopolit" oder "Liberaler" auftrete.

Nicht nur was den neuen Nationalismus und die anti-westliche-Politik angeht, ist die Kirche dem Kreml treu ergeben. Im Tschetschenien-Krieg wurden Waffen von Geistlichen gesegnet, kremlkritische Gottesdiener dagegen leiden unter Repressalien: Der Moskauer Vater Sergej etwa, der sich weigerte, Gebäude in einem Straflager zu segnen und den Geheimdienst kritisierte, wurde wegen "Einmischung in die Politik" die Erlaubnis entzogen, Messen zu lesen, und er wurde faktisch in die Arbeitslosigkeit gedrängt. Hochrangige Würdenträger erklären die vom Kreml bekämpfte Homosexualität zur Krankheit. Ein Geistlicher in Kutte erklärt im Fernsehen einen Homosexuellen vor laufender Kamera für exkommuniziert - 2006 in der Sendung "Zur Barriere". Die "ekelhafte Neigung" gefährde gar die Hauptstadt, warnte der Priester zur besten Sendezeit: "Gott ist der größte Homophob des Universums, er hasst die Homosexuellen ( ). Es gibt drei Todsünden, für die Gott Völker völlig vernichtet, die Legalisierung von Mord, Homosexualität und Hexerei." Im Falle einer Homosexuellen-Demonstration würde Gott Moskau überschwemmen und vernichten, so die Warnung des Priesters. Artikel 72 der neuen Verfassung definiert die Ehe jetzt ausdrücklich als eine von Mann und Frau. 

Die Kirche als "Propaganda-Arm" des Kremls?

Spitze Zungen beschimpfen die Kirche als "Propaganda-Arm" des Kreml beziehungsweise als dessen "ideologische Streitaxt". Tatsächlich spielt die orthodoxe Kirche eine weitaus größere Rolle im Staat und in der Wirtschaft als in der Gesellschaft, wo ihr Einfluss immer noch sehr gering ist   wohl auch eine Folge von 70 Jahren Kommunismus. Auch bei den anderen Religionsgemeinschaften ist das so   bis auf islamisch geprägte Regionen wie etwa den Nordkaukasus, in denen der Einfluss des Islam massiv angewachsen ist   teilweise unter der Ägide der regionalen Regierungen, teilweise aber auch gegen diese, wie etwa in der Republik Dagestan am Schwarzen Meer oder in Tschetschenien, das allerdings einen Sonderfall darstellt nach zwei Bürgerkriegen. 

So sehr die Kirche einerseits Putin treu ergeben ist   so erzürnt war der Kremlchef über sie, dass sie eine Abspaltung der ukrainisch-orthodoxen Kirche nicht verhindern konnte - obwohl er diese mit seinem Angriff auf die Ukraine selbst ausgelöst hatte. Das Vertrauen Putins in den Patriarchen habe seitdem Risse, berichten Insider - und den Zorn des Präsidenten, so feixen sie, fürchte Kyrill mehr als den Gottes. 

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