Wir wissen nicht, ob Papst Franziskus in heiligem Zorn auf den Tisch haute und sich über den zwei Tage zuvor in Brüssel verabschiedeten Matić-Bericht beklagte, als der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, ihn am Samstag im Vatikan besuchte. Und die geübte vatikanische Diplomatie wird auch dafür sorgen, dass wir es nie erfahren werden.
Der Namensgeber jenes Berichts, der Kirchenfürsten und Lebensschützer europaweit in Rage bringt, Predrag Fred Matić, jubelte jedenfalls auf Twitter: „Wir haben es geschafft!“ Und, garniert mit Europafahne: „Jeder muss Zugang zu Verhütung, medizinisch unterstützter Fortpflanzung, Abtreibung und anderen Gesundheitsdiensten haben!“ Der kroatische Sozialist hat leicht jubeln: Das Europäische Parlament verabschiedete am Donnerstag der Vorwoche seinen Bericht, der Abtreibung zum Menschenrecht erklärt und ihre Einschränkung mit geschlechtsspezifischer Gewalt gleichsetzt (siehe Seite 8 und 25).
Proteste von Bischöfen und Lebensrechtlern
Der Generalsekretär der EU-Bischofskommission COMECE, Manuel Barrios Prieto, fragte im Gespräch mit Radio Vatikan: „Wie kann ein Europa, das christliche Wurzeln hat und die Menschenwürde an die erste Stelle setzt, nur Abtreibung als ein Grundrecht ansehen?“ Es sei „besorgniserregend, dass die Parlamentarier diesem Text zugestimmt haben“. Man habe versucht, die Abgeordneten auf ihre Verantwortung bei dieser Abstimmung hinzuweisen. Der COMECE-Generalsekretär widersprach dem Matić-Bericht: Es gebe „nicht ein einziges internationales Abkommen, das von einem Recht auf Abtreibung spricht“. Anders als eine Mehrheit in Brüssel meint, gebe es jedoch einen Gewissensvorbehalt gegen die Mitwirkung an Abtreibungen nicht nur für einzelne Ärzte, sondern auch für ganze Einrichtungen, etwa für katholische Krankenhäuser.
Kritik kam im Vorfeld der Abstimmung etwa von der deutschen, der österreichischen, der kroatischen, der slowakischen und der nordischen Bischofskonferenz, ebenso von orthodoxen Bischöfen. Der Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, Salzburgs Erzbischof Franz Lackner, sagte nach dem Votum: „Abtreibung als Gesundheitsmaßnahme und als Menschenrecht einzustufen, entwürdigt das ungeborene Kind und ist ethisch unhaltbar.“ Der Matić-Bericht ignoriere die schwierige Situation schwangerer Frauen in Not und klammere das Lebensrecht ungeborener Kinder aus. Europa brauche „ein klares Ja zum Leben, ein Ja zur werdenden Mutter und ein Ja zum ungeborenen Kind, damit es Zukunft hat“, so Lackner.
Willkür anti-humaner Ideologen
Die Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht (BVL), Alexandra Linder, sagte, das Europäische Parlament habe sich „entgegen seinen hehren Grundsätzen dazu entschieden, Rechte von der Willkür Erwachsener und von der Willkür anti-humaner Ideologen abhängig zu machen“. Ihr fiel auf, dass ein anderes Ergebnis zustande gekommen wäre, wenn nur 62 Abgeordnete mit Nein statt mit Ja gestimmt hätten. „Eine Gesellschaft, die ernsthaft der Ansicht ist, die Tötung der eigenen Kinder sei eine Gesundheitsleistung und ein wichtiges Angebot für Frauen, um selbstbestimmt und emanzipiert zu sein, verachtet und diskriminiert Frauen, missachtet die Rechte der Kinder und hat keine Zukunft“, so Linder.
Als „Rückschlag für die Menschenrechte, das Lebensrecht und die ärztliche Gewissensfreiheit in Europa“ wertet Paul Cullen, Vorsitzender der „Ärzte für das Leben“, den Matić-Bericht. Dessen Annahme werde „dazu führen, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Recht von Ärztinnen und Ärzten, aus Gewissensgründen eine Mitwirkung an Abtreibungen abzulehnen, EU-weit zu beschneiden“. Cullen weiter: „So wie es entweder Gewissensfreiheit für alle Bereiche der Medizin gibt oder für gar keinen, haben entweder alle Menschen gleiche Menschenrechte, oder es hat keiner richtig welche.“ Die Annahme des Matić-Berichts sei „einer der größten Angriffe auf die Menschenrechte in Europa seit Jahren“.
Auch das „Salzburger Ärzteforum für das Leben“ sprach von einem „historisch zu nennenden Anschlag auf die Menschenrechte und auf das ethische Selbstverständnis der Ärzteschaft“. Die Einschränkung der Gewissensfreiheit bedeute, aus Ärzten Handlanger machen zu wollen. Die Annahme des Matić-Berichts sei „ein Skandal allerersten Ranges und ein brutaler Anschlag auf das Recht eines jeden Menschen auf Leben“, erklärte die Bundesvorsitzende der überparteilichen und überkonfessionellen „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA), Cornelia Kaminski. Die riesige Welle des Protestes in den EU-Mitgliedstaaten zeige überdeutlich, „dass nicht nur Lebensrechtler den Matić-Bericht für skandalös erachten“.
Fatales Signal gegen den Schutz des Lebens
Die neue Vorsitzende der „Christdemokraten für das Leben“ (CDL), Susanne Wenzel, sprach von einem „fatalen Signal gegen den Schutz des Lebens“ und von einem „Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung der EU“. Hier werde der Geist der Gründerväter des vereinten Europas in sein Gegenteil verkehrt, „was sicher bei vielen Unionsbürgern zu einer weiteren inneren Abkehr von Europa führen wird“. Die Abstimmung läute eine „dunkle Stunde Europas ein“. Die bayerische CDL-Landesvorsitzende Christiane Lambrecht meinte, der Matic-Bericht habe „das Potenzial, das unbedingte Menschenrecht auf Leben zu beenden“.
Bernd Posselt, Präsident der Paneuropa-Union Deutschland und CSU-Europapolitiker, sagte mit Blick auf die Zustimmung der Linksparteien zu Matić, es sei „völlig unverständlich, wenn Parteien bei der Pandemiebekämpfung erklären, das Recht auf Leben stehe über allen anderen Rechten, um dann ein 'Menschenrecht auf Abtreibung' zu proklamieren“. Den Christdemokraten und den Konservativen dankte Posselt für ihre klare Ablehnung dieses Textes, „der zwar rechtlich nicht verbindlich ist, aber auf gefährliche Weise Stimmung gegen die Kultur des Lebens und den Schutz ungeborener Menschen macht“.
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