Leitartikel: Chance für den Bundestag

Von Oliver Maksan
Oliver Maksan
Foto: DT | Oliver Maksan.

Deutschland ist mit der Konstituierung des neuen Bundestages am Dienstag in eine neue Phase seiner parlamentarischen Geschichte eingetreten. Die Volksparteien sind schwach wie nie. Die kleineren Parteien sind stark und selbstbewusst. Manche sehen Weimarer Verhältnisse aufziehen: erodierende Mitte, Stärkung der Extreme. Tatsächlich sitzt erstmals seit vielen Jahrzehnten mit der AfD wieder eine Partei rechts der Union im Parlament. Vom Wiedereinzug der Nazis (Sigmar Gabriel) ist die Rede. Weite Teile der veröffentlichten Meinung unterstützen die politischen Mitbewerber der Neuankömmlinge in dieser gelinde gesagt etwas unterkomplexen Sichtweise. Wo hier echte Sorge um die Demokratie aufhört und machtpolitische Interessen beginnen, ist wahrscheinlich den Akteuren oft selbst nicht mehr klar. Dass die AfD in Teilen problematische Personen und Positionen hat, ist eine andere Frage, auf die man aber am besten in der Sache reagiert und nicht durch grobschlächtige Skandalisierung.

Mit dem neuen Bundestag enthält die parlamentarische Demokratie aber vor allem eines: eine neue Chance. Das Hohe Haus muss dazu seine Selbstgefälligkeit und großkoalitionäre Apathie überwinden, die es mindestens die vergangenen vier Jahre geprägt haben. Die Zeiten, wo man sich auf die Schulter klopft und regelmäßige parlamentarische Sternstunden attestiert, ansonsten aber der Regierung willfahrt, sind vorbei. Das entspräche auch nicht dem Wählerwillen. Das 87 Prozent-Argument – nur knapp 13 Prozent hätten die AfD gewählt, der Rest sei mehr oder weniger mit dem Allparteienkonsens einverstanden – glauben natürlich selbst diejenigen nicht, die es verwenden. Ein Blick in die Umfragen und Nachwahlanalysen bezüglich Migration, Integration und Islam genügt, es zu widerlegen.

Will der Bundestag wieder das pochende Herz der deutschen Demokratie sein, muss er zweierlei beherzigen: einerseits echte Debatten zu führen und Lust am Streit zu haben. Andererseits die Sorgen und Anliegen im Volk wirklich aufzunehmen. Wo Moralisierung Argument und Debatte ersetzt, kommt man weder in der Sache voran, noch nimmt man die mit, die sich ohne Stimme fühlen. Populismus aber begegnet man am besten durch einen glaubwürdigen Dialog mit der Bevölkerung. Aus guten Gründen gibt es zwar kein imperatives Mandat. Die Volksvertreter brauchen Freiräume, um in komplizierten Fragen pragmatische Entscheidungen treffen zu können. Aber wer, wenn nicht die gewählten Volksvertreter sollten Scharnier zwischen Regierungshandeln und Sorgen und Ansichten der Bevölkerung sein?

Sollte die AfD indes der populistischen Meinung sein, sie allein repräsentiere das ganze oder wahre Volk, erläge sie einem Missverständnis. Tatsächlich ist in einer so hochgradig pluralen Gesellschaft wie der deutschen – von Fronleichnamsprozession bis Christopher Street Day reichen Lebensgefühl und Weltanschauung – totaler Konsens eine Illusion. Der vergangene Bundestag krankte indes daran, dass er ihn in politischen Zukunftsfragen wie Eurorettung und Flüchtlingspolitik vorgaukelte. Jetzt ist das Wahlvolk mit seinen unterschiedlichen Auffassungen besser repräsentiert. Die Möglichkeit, um Kurs und Zukunft von Land und Volk überzeugend zu streiten, darf nicht ungenutzt bleiben.

 
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