Wer nach Südamerika blickt, sieht einen Kontinent in Unruhe. Zwar galt die südliche Neue Welt noch nie als Garant der Stabilität, dennoch bezeugen die Bilder von Barrikaden, Protesten und anarchischer Zerstörungswut, dass Lateinamerika seine grundlegenden Probleme nicht gelöst hat. Der Wirtschaftsaufschwung der letzten zehn Jahre – nimmt man Venezuela aus – kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass keiner der Machthaber sich von Klientelpolitik, Korruption und Nepotismus befreit hat.
Nicht nur die sozialistischen Präsidenten wackeln
Auffällig bleibt, dass nicht nur die sozialistischen Präsidenten wackeln. Während der bolivianische Linkspopulist Evo Morales bereits gefallen ist, steht in Chile der liberalkonservative Sebastián Piñera unter Druck. Der ecuadorianische Präsident Lenín Moreno gilt als Sozialdemokrat, der bis zu den Regierungsprotesten im eigenen Land einen liberalen Wirtschaftskurs samt Austeritätspolitik fuhr.
Der Fall Morales ist deswegen hervorzuheben, weil kein anderer lebender Amtsträger des Kontinents so lange regiert hat. Zusammen mit Venezuela formte Bolivien ein anti-amerikanisches sozialistisches Tandem, das sich selbst als Erbe des großen Befreiungshelden Simón Bolívar verstand. Als Anwalt der Indigenen und Gegner des US-Einflusses im eigenen Land spielte er diese Rolle nicht nur, sondern lebte sie.
Mehr als ein Symbol für das Ende der sozialistischen Ikonen
Der Rücktritt von Morales ist deswegen nicht nur ein Symbol für das Ende der sozialistischen Ikonen, zu denen neben Morales und Hugo Chávez auch Luiz Inácio Lula da Silva aus Brasilien zählte. Wie Lula hat auch Morales einen entscheidenden Fehler gemacht: Er hat sich mit den Konzernen ins Bett gelegt. Im sozialistischen Lager, das vom Kampf für die Ausgebeuteten gegen die Großunternehmer lebt, um wenigstens den Anschein einer möglichen Umverteilung zu wecken, ist das ein Todesurteil.
Dass Nicolás Maduro sich als Präsident Venezuelas trotz Hungersnot und US-Drucks behaupten konnte, Morales dagegen eingebrochen ist, könnte dabei auch Gründe haben, die nicht nur in den Defiziten der südamerikanischen Staaten zu suchen sind. Russland legte in der Krise seine Hand über den venezolanischen Präsidenten. Überraschend: Bolivien und China pflegen ein inniges Verhältnis, doch Peking ließ Morales ohne Widerstand fallen.
Südamerika ist längst Ziel neokolonialer Ambitionen
Das rohstoffreiche Südamerika ist längst Ziel neokolonialer Ambitionen geworden. Kaum bekannt: für Deutschland hat Bolivien als Handelspartner eine enorme Bedeutung. Die hierzulande propagierte Energiewende samt Umstieg vom Verbrennungs- auf den Elektromotor ist ohne den Rohstoff Lithium nicht denkbar. Bolivien gilt als eines der größten Lithiumlager der Welt – und Deutschland hat zur Wende 2018/2019 China einen lukrativen Förderungsvertrag vor der Nase weggeschnappt.
Bald machte sich Unmut bei der Lokalbevölkerung breit. Der Vorwurf: die Deutschen und Morales‘ Leute stopften sich die Profite in die eigene Tasche und beuteten die Arbeiter aus. Ein gewaltiger Imageschaden für Morales, der einst angetreten war, um Unternehmen zu verstaatlichen und die ausländischen Kapitalisten vor die Tür zu setzen. Das hatte nicht nur Auswirkungen auf den Wahlkampf. Unter dem Druck der Proteste nach der Wahl kündigte Morales die Lithium-Verträge auf, in der Hoffnung, die Wut der einfachen Leute abzumildern. Genützt hat es ihm wenig.
Katastrophe mit Ansage für deutsche Energiewende
Für die deutsche Energiewende könnte das eine Katastrophe mit Ansage sein. Für China hat sich mit der Abwicklung von Morales dagegen ein lästiges Problem erledigt. Daran, dass Südamerika ein abgestecktes Gebiet von Einflusssphären bleibt, wird auch der Ruf nach demokratischer Erneuerung nichts ändern.
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