Seit Oktober finden in verschiedenen Teilen Guatemalas Demonstrationen, Streiks und Blockaden gegen das Vorgehen der Staatsanwälte und Richter gegenüber der Partei des gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo de León statt. Der Grund: Beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl am 20. August wurde Bernardo Arévalo von der Partei „Movimiento Semilla“ („Saatbewegung“) mit einer großen Mehrheit zum nächsten Präsidenten von Guatemala gewählt - 58 Prozent der Stimmen entfielen auf ihn, die Gegenkandidatin Sandra Torres von der „Nationalen Einheit der Hoffnung“ UNE erreichte 37 Prozent. Für den Zeitraum von 2024 bis 2028 wird Guatemala einen Soziologen als Präsidenten haben, der nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses bekräftigte, dass „dieser Sieg dem Volk gehört und wir gemeinsam die Korruption bekämpfen werden.“
Das Oberste Wahlgericht (TSE) von Guatemala erklärte den Wahlprozess für abgeschlossen, und bestätigte in einer offiziellen Stellungnahme die Ergebnisse der allgemeinen Wahlen sowie der Wahlen zur Abgeordnetenkammer. Die guatemaltekische Staatsanwaltschaft leitete jedoch eine Reihe von Ermittlungen ein, die zur Auflösung der Partei des gewählten Präsidenten, zur Beschlagnahme von Wahlurnen und Wahlunterlagen und in der Folge zu wachsenden politischen Unruhen führten.
Arévalo-Anhänger wittern Verschwörung
Diese Untersuchungen zielten darauf ab, einige Unregelmäßigkeiten in der Parteisatzung aufzuklären, die sich unabhängigen Beobachtern zufolge durchaus als wahr erwiesen haben, wie etwa unrechtmäßige Sammlungen von Unterschriften. Diese Entdeckungen innerhalb der Parteisatzung führte dann zu dem schwerwiegenden Vorwurf, dass es hierdurch bei den Wahlen Betrug gab und die Ergebnisse daher ungültig seien. Doch sowohl das Oberste Wahlgericht als auch der amtierende Präsident Alejandro Giammatei haben versichert, dass der Wahlprozess gültig war und dass Arévalo verfassungsgemäß am 14. Januar die Präsidentschaft übernehmen wird.
In diesem Zusammenhang herrscht unter einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung die Befürchtung, dass Arévalo im Januar nicht in sein Amt eingesetzt und somit der Wille des Volkes missachtet wird. Denn die derzeitigen Schritte der Staatsanwaltschaft zur Untersuchung mutmaßlicher Unregelmäßigkeiten bei der Gründung der „Saatbewegung“ werden von Arévalo-Anhängern als politisches Manöver gedeutet, das darauf abzielt, den Wahlprozess zu untergraben. Rafael Curruchiche, Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit (FECI), erklärte, dass diese Ermittlungen tatsächlich bereits im Jahr 2019 begonnen hatten und dem Obersten Wahlgericht (TSE) vor Beginn des Wahlkampfes bekannt gegeben wurden. Trotz dieser Informationen hatte das TSE im Wahlkampf keine Maßnahmen gegen die Partei ergriffen, während es gegen andere Parteien während des Wahlkampfes vorgegangen war.
In Anwendung eines alten Gesetzes gegen organisiertes Verbrechen traf Richter Fredy Orellana die Entscheidung, die Rechtspersönlichkeit der Partei ohne vorherige Verurteilung aufzulösen. Dieses Gesetz wurde von zahlreichen Juristen, einschließlich führender Verfassungsrechtler Guatemalas, als verfassungswidrig kritisiert, da es die Rechte juristischer Personen verletzt und zukünftig willkürlich gegen andere Institutionen eingesetzt werden könnte. Darüber hinaus wurde die Maßnahme als unverhältnismäßig wahrgenommen. Die Frage stellt sich, ob 20 oder 500 Unterschriften mit Unregelmäßigkeiten ausreichen, um eine Partei zu disqualifizieren, die mit mehr als 25.000 Unterschriften registriert wurde.
Mehr als 125.000 Dokumente beschlagnahmt
Eine weitere Untersuchung bezüglich Betrugsverdachts im ersten Wahlgang führte zur Beschlagnahmung von mehr als 125.000 Dokumenten in den Räumlichkeiten des TSE. Dieses Vorgehen ist in keinem Gesetz vorgesehen, da es im Wahlgesetz heißt, dass die Originaldokumente aufbewahrt werden müssen und eine etwaige Überprüfung anhand von Kopien erfolgen sollte. Ob die Stimmenauszählung im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen die Partei, nämlich der Fälschung von Unterschriften in ihrer ursprünglichen Parteisatzung, relevant ist, bleibt ebenfalls zu klären. Dieses Vorgehen wurde als Bestätigung für eine mögliche politische Verfolgung der Partei und des gewählten Präsidenten empfunden.
In dieser Situation beharrt Bernardo Arévalo auf seinem Standpunkt, dass es sich um politische Verfolgung gegen ihn handelt, und verwendet den Begriff „Staatsstreich“, was wiederum von einigen Teilen der Gesellschaft kritisiert wurde. Während der Demonstrationen hat Arévalo mehrere Mitteilungen veröffentlicht, in denen er konsequent dasselbe Narrativ wiederholt und die Legitimität der Proteste betont.
Angesichts dieser Situation hat das Verfassungsgericht eine Erklärung veröffentlicht, in der es alle Akteure aufforderte, die in ihre Zuständigkeit fallenden Maßnahmen zu ergreifen, damit die Gewählten ihr Amt zum vorgesehenen Zeitpunkt, dem 14. Januar 2024, antreten können. Diese Erklärung wurde unterschiedlich interpretiert: Einige sehen sie als Bestätigung der Legitimität des Wahlprozesses, während andere sie als Aufforderung ansehen, die Ermittlungen fortzusetzen. Dadurch hat sich der Druck weiter erhöht.
Die ganze Region blickt auf Guatemala
Die Verwirrung in Guatemala nimmt von Tag zu Tag zu, ebenso wie die politische Spannung und die Gewalt bei einigen Demonstrationen und Blockaden. Es wurden bereits gewalttätige Aktionen sowohl gegen Demonstranten als auch gegen Bürger gemeldet, die sich geweigert haben, an den Blockaden teilzunehmen. Darüber hinaus fordern einige Demonstrationsgruppen, dass der angebliche Staatsstreich gestoppt wird und Bernardo Arévalo sein Amt antreten kann.
Da Arévalo vom TSE bestätigt wurde, scheint nichts, auch nicht die Auflösung seiner Partei, dagegen zu sprechen, dass er am 14. Januar sein Amt antritt. Das Problem besteht darin, dass nur wenige Menschen die rechtlichen Schritte wirklich verstehen. Um die Lage zu entspannen hat das Außenministerium die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um Vermittlung ersucht: Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass dies zu einer Beruhigung der Lage führt, da die Forderungen der Demonstranten klar sind und der Generalstaatsanwalt nicht nachgeben will. Währenddessen beschäftigen sich nur wenige mit den rechtlichen Möglichkeiten, die tatsächlich bestehen - und das Land erleidet wirtschaftliche Einbußen, die Millionen von Guatemalteken betreffen.
Zur Aufhebung des Rechtsstatus der „Saatbewegung“ des designierten Präsidenten Bernardo Arévalo de León durch das Oberste Wahlgericht (TSE) hat der Koordinationsausschuss der Landwirtschafts-, Handels-, Industrie- und Finanzverbände (Cacif) eine Erklärung abgegeben. Der Ausschuss bekräftigt seine „volle Unterstützung für den demokratischen Prozess“ in Guatemala: „Nach den drei Phasen des Wahlprozesses wurden die Ergebnisse der allgemeinen Wahlen und der Wahlen der Abgeordneten des Zentralamerikanischen Parlaments 2023 bestätigt. Damit ist die Entscheidung der Guatemalteken, die an die Urnen gegangen sind, offiziell“. Die Wahlergebnisse seien „unabänderlich“, nachdem das Oberste Wahlgericht in einem Dekret deren endgültigen Charakter festgestellt habe.
USA wollen auf "antidemokratische Aktionen" im Land reagieren
Am 2. November gab die Justizbehörde (OJ) außerdem in einer Erklärung bekannt, dass sie „die Anschuldigungen von Herrn Bernardo Arévalo kategorisch zurückweist“, die sich auf gerichtliche Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Wahlprozess beziehen. Arévalo hatte gefordert, dass „Handlungen eingestellt werden, die darauf abzielen, die Stimme des Volkes, die an den Wahlurnen frei zum Ausdruck gebracht wurde, zu verhöhnen“. Die Justizbehörde betonte daraufhin, dass gemäß Artikel 203 der politischen Verfassung der Republik die Richter und Staatsanwälte, die die verschiedenen Kammern und Gerichte bilden, „in der Ausübung ihrer Funktionen unabhängig sind“. Es wurde weiterhin festgestellt, dass Richter und Staatsanwälte „nur der politischen Verfassung der Republik und den Gesetzen unterworfen sind“. Zudem wurde betont, dass „keine Behörde oder Person in die Rechtspflege eingreifen darf“.
Die Vereinigten Staaten haben angekündigt, sie würden auf „antidemokratische Aktionen“ im Land reagieren, und lehnten gleichzeitig Aktionen ab, die den politischen Übergang im Land „behindern“. Denn klar ist: Die Situation in Guatemala bleibt komplex und angespannt.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.