„Gott ist nicht Europa-tauglich!“

Ein Gespräch mit Michael F. Feldkamp. Von Josef Bordat
Ein Gespräch mit Michael F. Feldkamp zum Grundgesetz der BRD
Foto: Burkhard Peter

Herr Feldkamp, der Parlamentarische Rat – was waren das für Menschen? Wie christlich war die verfassungsgebende Versammlung?

Dem Parlamentarischen Rat gehörten 65 Abgeordnete aus den drei westdeutschen Besatzungszonen an. Davon gehörten 27 Abgeordnete jeweils der CDU/CSU und SPD an.

Die Nachrücker eingeschlossen waren 25 Abgeordnete katholisch und 25 evangelisch; sechs bezeichneten sich als frei-religiös, einer war altkatholisch und 20 machten keine Angabe zu ihrer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit.

Die beiden Kommunisten im Parlamentarischen Rat waren selbstverständlich entschiedene Christengegner! Bei der SPD bekannte man sich traditionell nicht zu einer Kirchenzugehörigkeit. Das hat sich übrigens auch nach dem „Godesberger Programm“ von 1959 nicht geändert, obwohl sich die SPD damals zu einem „demokratischen Sozialismus“ und sogar zur Sozialen Marktwirtschaft bekannte. Zwei Abgeordnete gehörten zur katholischen Zentrumspartei, die sich in die Tradition von Ludwig Windhorst stellte. Sie hat sich schon damals nicht behaupten können, weil die katholischen Bischöfe seit 1946 die Gründung der bi-konfessionellen Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (der CDU) beziehungsweise ihrer bayrischen Schwesterpartei CSU begünstigten.

Auch die Liberalen im Parlamentarischen Rat zeichneten sich nicht durch eine entschiedene christliche Politik aus. Doch während Thomas Dehler, selbst Katholik, heftig gegen das Reichskonkordat von 1933 polemisierte, haben wir es Theodor Heuss, evangelisch, zu verdanken, dass er den Kompromissvorschlag einbrachte, die Kirchenartikel aus der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz zu übernehmen.Wie christlich schließlich die Verfassungsväter und -mütter waren, die sich auch zum Christentum bekannten, ist schwer auszumachen. Adolf Süsterhenn und Robert Lehr waren durchaus Protagonisten für die Belange der beiden christlichen Konfessionen.

Aber erlauben Sie mir die Schilderung einer kleinen Begebenheit: Der Abgeordnete Felix Walter verstarb im Februar 1949.

Als Mitarbeiter der Parlamentsverwaltung im Auftrag der Witwe das Hotelzimmer räumten, fanden sie unter anderem auf dem Nachttisch ein Gebetbuch und einen Rosenkranz. – Bei ihm wie auch sicher bei vielen anderen gehörte beides zur „Grundausstattung“, wenn man unterwegs war.

Lässt sich anhand der Verhandlungsprotokolle zeigen, welches Gottesbild die Mitglieder hatten, als sie von „Verantwortung vor Gott“ sprachen?

Theologische Reflexionen, die auf ein konkretes Gottesbild Bezug nehmen, gibt es im Parlamentarischen Rat nicht. Er war auch nicht der Ort dafür. Vielmehr konnte es nur Aufgabe der Abgeordneten sein, auf der Grundlage ihres Glaubens sowie Gottes- und Menschenbilds Politik zu betreiben. So konnte etwa der dezidiert katholische Abgeordnete Adolf Süsterhenn sehr wohl sich für den Schutz des Lebens und selbstverständlich auch des vorgeburtlichen Lebens aussprechen und gleichwohl auch die Einführung der Todesstrafe im Grundgesetz fordern. Er war es auch, der wiederholt das Naturrecht ins Gespräch brachte und davon ausgehend seine politischen Forderungen argumentativ entwickelte.

Wie hat sich damals die katholische Kirche positioniert? Welche Einflüsse gab es?

Recht auf körperliche Unversehrtheit, Schutz des menschlichen Lebens, Recht auf religiöse Erziehung der Kinder, freie Religionsausübung und die Anerkennung des Reichskonkordats von 1933 standen auf der Agenda der katholischen Bischöfe während der Arbeit am Grundgesetz. Sie haben unter der Leitung des Bischofs Michael Keller aus Münster und gemeinsam mit dem Präses der evangelischen Landeskirche Karl Koch in einem Gespräch am 14. Dezember 1948 mit Mitgliedern des Parlamentarischen Rates ihre Positionen vertreten und eingefordert. Doch nur katholische Abgeordnete haben diese Positionen zu ihren eigenen gemacht und in den Gremien des Parlamentarischen Rates vertreten. Papst Pius XII. hat schließlich die Bischöfe anlässlich der Bischofskonferenz im Februar 1949 mit einem ausführlichen Schreiben unterstützt bei ihrem Einsatz bei der Grundgesetzarbeit und sie zu weiterem Engagement aufgerufen. Etwas durchsichtig war es, dass dieser Brief an die Bischöfe dann plötzlich am 2. Mai 1949, also kurz vor der Schlussabstimmung, publiziert wurde. Abgesehen davon, dass der Brief im Parlamentarischen Rat nicht rezipiert wurde, war auch der propagandistische Zweck sehr durchsichtig.

Ließe sich der Gottesbezug auch für eine Gesellschaft sinnvoll deuten, die mehrheitlich nicht-christlich, also säkular oder in Teilen auch islamisch geprägt ist?

Zuletzt wurde im Kontext über einen Gottesbezug in der EU-Menschenrechtscharta und EU-Verfassung darüber diskutiert. Befürworter fanden sich überwiegend bei konservativen Katholiken. Interessanterweise haben die Gegner des Gottesbezuges in der EU-Verfassung vor allem argumentiert, dass er eine Referenz an das Christentum sei und die Türkei von einer EU-Mitgliedschaft ausschließen würde. Nicht-Christen würden also ausgeschlossen werden! Das Ergebnis der Diskussion finden Sie übrigens in der Präambel des Vertrags von Lissabon aus dem Jahre 2009. Man spricht dort nur noch vom „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“. Gott – und vor allem der Gott der Juden und Christen – ist nicht Europa-tauglich!

Gottesbezug und Menschenwürde sind unverkennbar christliche Einträge im Grundgesetz – doch unter‘m Strich: Wie christlich ist unsere Verfassung wirklich?

Unsere Verfassung ist in keiner Weise eine christliche Verfassung! Wir haben umgekehrt aber auch nicht jene laizistische Verfassung, wie wir sie etwa aus der französischen Verfassungstradition kennen. Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland gilt mit der Übernahme der sogenannten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung die positive Religionsfreiheit. Das heißt: Durch die Anerkennung der Kirchen als Körperschaft des Öffentlichen Rechts haben diese einen großartigen Spielraum, im sozialen und karitativen Bereich zu wirken. So gibt es eben die vielen katholischen Kindergärten, Krankenhäuser und sozialen Einrichtungen, wie zum Beispiel Beratungsstellen und so weiter.

Ist das Verhältnis von Staat und Kirche gut geregelt oder bedarf es da Veränderungen?

Aus staatsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht sehe ich keine Veranlassung, das Grundgesetz zu ändern. Wir sind in Deutschland insbesondere vor dem Hintergrund des Kulturkampfs der Bismarck-Zeit seit 100 Jahren recht gut gefahren.

Aus kirchlicher Sicht ist die Lage freilich eine gänzlich andere: Auf Papst Johannes XXIII. geht das Diktum zurück, es darf keine privilegierte Kirche geben. Und Papst Benedikt XVI. hat in seiner Freiburger Rede im Jahre 2011 für Deutschland sehr konkret eine „Entweltlichung“ der Kirche gefordert. Nur im Zuge einer Säkularisierung entledigt sich die Kirche ihres weltlichen Reichtums. Papst Benedikt sieht eine Entlastung für die Kirche, die sich danach viel besser auf ihr Kerngeschäft konzentrieren kann, die Heilsbotschaft Christi zu verkünden. Die Diskussion um Benedikts Freiburger Rede zeigt das Dilemma der Kirche in Deutschland, die sich offenbar nicht freimachen kann, um sich auf die Verkündung der Heilsbotschaft Christi zu konzentrieren.

Alles in allem: Ist Deutschland mit dem Grundgesetz in guter Verfassung? Wie sehen Sie die Zukunft des Grundgesetzes – braucht es Erweiterungen, etwa im Hinblick auf Kinderrechte oder Klimaschutz?

Wir haben eine der besten freiheitlichen Verfassungen in ganz Europa. Wir sollten der Versuchung widerstehen, jede gesellschaftliche Veränderung gleich durch eine Grundgesetzänderung zu sanktionieren.

Wenn ich richtig informiert bin, dann ist insbesondere die von Ihnen genannte Einführung von Kinderrechten beziehungsweise des Staatsziels „Kinderschutz“ eine mehr oder weniger beschlossene Sache der Länder der Bundesrepublik Deutschland. Somit wird dieser Punkt kaum mehr abwendbar sein. Was mich daran stört ist, dass mit dem Einzug von Kinderrechten der Staat sich geschützt durch die Verfassung erlaubt, das Erziehungsrecht der Eltern auszuhebeln. Das mag im Einzelfall berechtigt sein, aber hier hat der Staat schon immer die Möglichkeit gehabt, im Falle von Misshandlungen et cetera den Eltern die Kinder wegzunehmen. Wenn aber nun der Staat glaubt vorschreiben zu müssen, was gut oder schlecht ist für Kinder, dann sind wir bei dem Punkt angelangt, den Olaf Scholz für die SPD schon seit dem Jahre 2002 fordert, nämlich die „Lufthoheit über die Kinderbetten“.

Von Michael F. Feldkamp erschienen zum Thema die Bücher „Der Parlamentarische Rat 1948–1949“ (Göttingen 1998, Neuauflage: 2008 und 2018) und „Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949“ (Stuttgart 1999).
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