Vor den Wahlen

Für Nigeria steht viel auf dem Spiel

Wenige Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen herrscht in Nigeria Benzin- und Bargeldknappheit, die Unzufriedenheit der Menschen wächst. Anschläge auf Einrichtungen der Wahlbehörde und Sicherheitskräfte im gesamten Land machen die Organisation der größten Wahl, die es auf dem afrikanischen Kontinent je gab, zu einer logistischen Mammutaufgabe
Vor Wahlen in Nigeria
Foto: Emmanuel Osodi (AP) | Ein Anhänger von Peter Obi, dem Präsidentschaftskandidaten der Labour Party. Obi ist der einzige Christ unter den Kandidaten. Seine Erfolgsaussichten sind eher gering.

Wer sich in diesen Tagen in Nigeria umschaut, sieht vor allem eins: Nigerianer, die massenhaft Schlange stehen. Teils kilometerlange Autoschlangen prägen derzeit das Bild der Hauptstadt Abuja und anderer Großstädte. An den Tankstellen stehen die Menschen oft mehrere Stunden an, um an knappes Benzin zu gelangen. Obwohl einer der größten Erdölexporteure Afrikas, verfügt Nigeria über keine einzige funktionierende Raffinerie und muss veredeltes Erdöl importieren. Lange Schlangen haben sich auch vor den Banken gebildet, nachdem die Zentralbank kurz vor Jahreswechsel überraschend die Ausgabe neuer Scheine der Landeswährung Naira angekündigt hat und die Frist für die Einzahlung alter Naira-Noten in wenigen Tagen abläuft. Schließlich stehen derzeit viele Nigerianer an, um ihre Wahlberechtigungskarten abzuholen, ohne die sie bei den kommenden Wahlen ihre Stimme nicht abgeben können.

Wahlen, die die Zukunft bestimmen

Am 25. Februar finden im bevölkerungsreichsten Land Afrikas Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Von schicksalhaften und die Zukunft des Landes bestimmenden Wahlen ist die Rede. Das Land mit der nominell größten Volkswirtschaft auf dem Kontinent ist in den vergangenen Jahren zunehmend instabil geworden. Nigeria befindet sich seit letztem Jahr in einer schweren Wirtschaftskrise und steuert laut einiger Prognosen auf die dritte Rezession innerhalb von acht Jahren zu. Die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeigen sich auch hier in Gestalt einer Ernährungs- und Erdölkrise und Rekordinflation sowie dem damit zusammenhängenden Verfall der Landeswährung. Laut offiziellen Angaben lebten 2022 fast zwei Drittel der Bevölkerung in extremer Armut, das heißt von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Im Vergleich: 2021 war es noch etwa die Hälfte. Endemische Korruption, Elitenpolitik und Vetternwirtschaft erschweren die Entwicklung des Landes.

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In Nigeria hat sich in den letzten Jahrzehnten ein komplexes Konfliktpanorama mit gewaltsamen Auseinandersetzungen in allen Teilen des Landes entwickelt. Die Sicherheitslage verschlechtert sich seit Jahren, die Konflikte überlappen sich zunehmend. Während im Nordosten der IS-Ableger "Islamic State West Africa Province" (ISWAP) bis in die Tschadsee-Region aktiv ist, haben sich im Nordwesten gewaltsame Konflikte mit professionell organisierten Banden etabliert und Massen- und Expressentführungen zu einem lukrativen Geschäftsmodell gemacht. In Zentralnigeria, dem sogenannten Middle Belt, finden seit Jahrzehnten um Landnutzung geführte gewaltsame Konflikte zwischen überwiegend christlichen Bauern und mehrheitlich muslimischen Hirten statt. Im erdöl- und erdgasreichen Süden operieren teils schwer bewaffnete Milizen und stehlen oder raffinieren illegal Öl. Im Südosten hat sich der Konflikt mit Separatisten, die sich auch über 50 Jahre nach dem Bürgerkrieg für ein unabhängiges Biafra einsetzen, weiter verschärft.

Sicherheitsorgane können kaum angemessen reagieren

Die Sicherheitsorgane können kaum angemessen reagieren. Sie sind unzureichend ausgebildet und ausgestattet, zudem zentral organisiert, was schnelle Reaktionen auf unmittelbare Vorfälle erschwert. Ihre Mitarbeiter sind in der Regel schlecht bezahlt, was sie anfällig für Korruption macht; nicht selten sind sie Teil der Probleme, die sie bekämpfen sollen. Entsprechend genießen sie bei der Bevölkerung oft wenig Vertrauen.
In Verbindung mit der hohen Armutsquote und der zunehmenden Arbeitslosigkeit, dem rasanten Bevölkerungswachstum und dem niedrigen Bildungsniveau sowie einem in vielen Regionen zu beobachtenden Staatsversagen, sind das Multiethnische – Nigeria hat über 250 Ethnien – und die religiöse Teilung des Landes in einen vorwiegend muslimischen Norden und einen weitestgehend christlichen Süden die Hauptursachen für die gewaltsamen Konflikte. Wer es sich leisten kann, verlässt das Land. Es gibt sogar einen Begriff hierfür, den man seit dem letzten Jahr vermehrt hört: „japa“.

Während die Unzufriedenheit im Land angesichts wirtschaftlicher Not und einer stetig sich verschlechternden Sicherheitslage steigt, mehren sich resignierte Diskussionen darüber, ob überhaupt einer der Präsidentschaftskandidaten den Abwärtstrend der letzten Jahre aufhalten kann. Zur Wahl stehen Kandidaten 18 politischer Parteien; eine wirkliche Rolle spielen jedoch nur drei. Die besten Chancen, der nächste Präsident Nigerias zu werden, haben zwei erfahrene Politiker, die für eine Kontinuität der bisherigen nigerianischen Macht- und Elitenpolitik stehen. Für die Regierungspartei All Progressives Congress (APC) kandidiert Bola Tinubu, ehemaliger Gouverneur der Finanz- und Kulturmetropole Lagos. Tinubu ist ein politisches Schwergewicht und der (einfluss-)reichste unter allen Kandidaten. Er ist Muslim, stammt aus dem Süden und ist nach eigenen Angaben 70 Jahre alt, wird aber auf über 80 geschätzt.

Für die größte Oppositionspartei Peoples Democratic Party (PDP) tritt Atiku Abubakar an, 75 Jahre alt, ebenfalls Muslim, aber aus dem Norden des Landes. Auch Atiku, wie er genannt wird, verfügt als langjähriger Geschäftsmann über ein erhebliches Vermögen und war von 1999 bis 2007 Vizepräsident. Es ist bereits sein fünfter Versuch, Präsident zu werden.

Ethnische Zugehörigkeit spielt eine Rolle

Wahrscheinlich ist, dass die Wahl sich zwischen diesen beiden Kandidaten der beiden größten Parteien des Landes entscheiden wird. Dennoch hat es ein dritter Politiker durch seine Kandidatur für eine andere Partei geschafft, die politische Landschaft, die seit der Demokratisierung Nigerias 1999 faktisch ein Zweiparteiensystem war, zu öffnen. Peter Obi tritt für die Labour Party (LP) an, ist Christ aus dem Südosten und mit 61 Jahren der jüngste unter den Favoriten für das Präsidentenamt. Obi ist ein ehemaliger Gouverneur und war bei den letzten Wahlen Vizepräsidentschaftskandidat der PDP. Auch wenn er es derzeit als einziger Kandidat schafft, die junge Wählerschaft zu mobilisieren, werden ihm keine realistischen Erfolgschancen zugerechnet. Obi verfügt über keine vergleichbare Macht- oder Finanzbasis wie die anderen beiden Kandidaten, und nach Meinung vieler Experten wird sich die nigerianische Elitenpolitik nicht so schnell aufbrechen lassen. Immerhin: Zum ersten Mal besteht die realistische Möglichkeit einer Stichwahl. Über die logistischen Probleme und finanziellen Herausforderungen, die damit einhergehen würden, wird in Nigeria aber lieber nicht gesprochen.

Als eines der wahlentscheidenden Kriterien gilt Identität, das heißt die ethnische und religiöse Zugehörigkeit der Kandidaten. Sie bestimmt die öffentlichen und privaten Debatten um die Wahl mehr als Lösungsvorschläge für die gravierenden Probleme des Landes. Politik und Religion sind in Nigeria eng miteinander verknüpft. Da ihre Empfehlungen besonderes Gewicht haben, werden religiöse Meinungsführer von Kandidaten über die eigene Konfession hinaus umgarnt. Ob die nigerianischen Christen mehrheitlich Obi wählen werden, ist unklar; gewählt wird nicht zwingend entsprechend der eigenen Religionszugehörigkeit. Eindeutig ist jedoch: Die Christen im Land sind unzufrieden und fühlen sich benachteiligt von der aktuellen Regierung unter dem muslimischen Präsidenten Muhammadu Buhari (APC). Sie kritisieren die systematische Besetzung von wichtigen und finanziell lohnenden Regierungs- und Funktionsämtern mit Muslimen. Außerdem werfen sie der Regierung vor, nicht entschieden genug gegen Tötungen von Christen durch Muslime vorzugehen. Anschläge auf christliche Gotteshäuser oder Geistliche gehören zum traurigen Alltag in Nigeria. Vor einem halben Jahr wurden im Südwesten des Landes bei einem Anschlag auf eine katholische Kirche über 50 Menschen getötet. Vor drei Wochen wurde ein katholischer Priester im Norden des Landes bei lebendigem Leib verbrannt. Die Gemeinden, die es sich leisten können, zahlen für private Sicherheitsmaßnahmen.

Der Ausgang der Wahlen wird nicht nur für die Nigerianer von besonderer Bedeutung sein, sondern auch deutsche und europäische Interessen betreffen: Das Land ist ein wichtiger Stabilitätsanker in der von Militärputschen und Instabilität geprägten Region und ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen grenzüberschreitenden islamistischen Terrorismus in Westafrika. Als größter und einflussreichster Mitgliedsstaat der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS ist Nigeria auch in wirtschaftlicher und finanzpolitischer Hinsicht ein regionaler Riese.
Schließlich ist es Deutschlands zweitwichtigster Handelspartner und größter Absatzmarkt in Subsahara-Afrika. Viel steht auf dem Spiel: für Nigeria, Afrika und seinen Nachbarkontinent.


Die Autorin ist Leiterin des Auslandsbüros Nigeria der Konrad-Adenauer-Stiftung in Abuja.

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