Nach einem knappen Jahrzehnt des Stillstands ist die Europäische Union jetzt entschlossen, eine nächste große Erweiterungsrunde anzugehen. Am Freitag soll der EU-Gipfel in Brüssel der Ukraine und der Republik Moldau den Status von EU-Beitrittskandidaten verleihen sowie Georgien eine europäische Perspektive eröffnen. Alle drei Staaten haben keine volle Kontrolle über ihr gesamtes Staatsgebiet, weil russische Besatzungstruppen im Osten und Süden der Ukraine, im zu Moldau gehörenden Transnistrien und in den georgischen Regionen Südossetien und Abchasien stehen. Die EU-Kommission hat die Ukraine und Moldau zum Beitrittsgesuch ermutigt und positiv bewertet, nicht zuletzt wegen der anhaltenden militärischen Aggression Russlands. Bundeskanzler Olaf Scholz macht sich dafür stark, die Beitrittsverhandlungen mit (Nord-) Mazedonien nach mittlerweile 17 Jahren weithin willkürlicher Verzögerung zu starten. Aus Wien, Zagreb und Ljubljana kamen Mahnungen, den sogenannten "Westbalkan" nicht zu vergessen.
Kiew braucht ein klares Bekenntnis des vereinten Europa
Allen Beteiligten ist klar: Von der Zuerkennung des Kandidaten-Status bis zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen vergehen Jahre, vom Start der Verhandlungen bis zu einem EU-Beitritt ebenso. Dieser Prozess ist ein Marathon, kein Sprint. Doch die Verweigerung des Kandidaten-Status - und dafür würde das Nein eines der 27 EU-Staaten genügen - wäre gerade so, als würde man einem Marathonläufer bereits vor dem Start ins Knie schießen. Im Fall der von Putin terrorisierten Ukraine kann das niemand in Europa wollen. Kiew braucht neben schweren Waffen ein klares Bekenntnis des vereinten Europa, der Ukraine ihren sicheren Hafen zu öffnen. Damit ist die nächste Runde der EU-Erweiterung eröffnet.
Auf Eis liegen seit Jahren die 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei, und es hat auch niemand daran Interesse, sie wieder aufzutauen. Schleppend gehen die 2014 begonnenen Beitrittsverhandlungen mit Serbien voran, zumal die Regierung in Belgrad zwar gerne EU-Förderungen nimmt, sonst aber lieber mit Russland und China flirtet. Montenegro verhandelt seit 2012; Albanien und Mazedonien sind EU-Bewerber, mit denen bisher noch nicht verhandelt wird. Als "potenzielle Bewerber" sind Bosnien-Herzegowina und der Kosovo eingestuft. Auf dem "Westbalkan" ist Russland zwar nicht mit Besatzungstruppen, jedoch politisch und propagandistisch präsent. Auch hier steht die EU also unter Konkurrenzdruck, will sie nicht weitere europäische Staaten an die Machtsphäre Moskaus oder auch Pekings und Ankaras verlieren.
Hatten die EU-Entscheidungsträger nach den Beitritten von Rumänien, Bulgarien (2007) und Kroatien (2013) gebremst, so zeichnet sich jetzt die nächste große EU-Erweiterung ab. Gewiss, die Verhandlungen mit den Kandidatenstaaten dauern Jahre: Bewerber müssen über stabile Institutionen verfügen, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gewährleisten, über eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, die mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen Verpflichtungen zu erfüllen. Korruption und organisierte Kriminalität müssen bekämpft werden.
Ist die EU erweiterungsfähig?
Nicht weniger herausfordernd ist aber die Frage, ob die EU selbst erweiterungsfähig ist. Da geht es nicht nur darum, neue Staaten mit Millionen Einwohnern zu integrieren und wirtschaftlich voll einzubinden. Es geht auch um die Funktionsfähigkeit der EU-Institutionen: Schon jetzt ist die Handlungsfähigkeit der EU-Gipfel ein Hochseilakt, wenn es um Themen geht, bei denen jeder EU-Staat über ein Veto-Recht verfügt. So braucht es etwa für die Aufnahme neuer EU-Mitglieder die Zustimmung aller bisherigen: Slowenien verzögerte so einst im Alleingang den Beitritt Kroatiens, Griechenland blockierte jahrelang Mazedonien. Will die EU nach der nächsten Erweiterung noch handlungsfähig sein, muss sie jetzt eine Reform ihrer Institutionen wagen. Da wird auch am Prinzip der Einstimmigkeit gerüttelt werden müssen.
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